© Katja Tropoja
Wissenschaftliche Erkenntnis kann uns helfen, Lebenssituationen realistisch einzuschätzen, um anschließend vernunftgeleitete Entscheidungen treffen zu können.
Nur wenn wir deren Sinnhaftigkeit vor uns selbst und unserer Umwelt gegenüber rechtfertigen und begründen können, sind wir auch in der Lage, Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen. Dieses Gefühl der Verantwortung ist Voraussetzung, um etwas in gewünschter Weise zu bewirken. So kommen wir innerhalb des von uns beeinflussbaren Terrains in der Regel gut durchs Leben. Wollen wir aber die eigene Selbstwirksamkeit spüren und dem Leben einen tiefen Sinn und Reichtum verleihen, stoßen wir mit diesem Konzept bald an Grenzen.
Das Leben ist fortlaufende Erneuerung, deshalb erschaffen auch wir uns immer wieder im Lauf des Lebens neu. Das einmal entworfene Bild, das wir von uns selbst haben, ist nicht statisch, sondern verändert sich mit dem Eintritt in neue Lebensabschnitte. Das alte Modell wird brüchig und hohl und kann sogar vorübergehend ganz verschwinden. Alle Wiederbelebungsversuche des Alten bleiben erfolglos, ein klares Ziel ist nicht in Sicht.
Was tun wir, wenn wir nichts finden, womit wir uns in naher Zukunft identifizieren können?
Diese Erkenntnis ist ein erster Schritt in die Veränderung, mit der wir einen dynamischen Prozess in Gang setzen und zugleich wahrnehmen, dass wir etwas bewirken können. Nicht durch Lesen von Fachbüchern und nicht durch Beratungsgespräche, sondern nur durch unsere Gedanken und die Emotionen, die sie auslösen. Was immer wir heute denken und fühlen, werden wir morgen sein.
Die gute Nachricht: Wenn wir keine Vorstellung unseres zukünftigen Selbst haben, sind wir wie ein unbeschriebenes Blatt. Alles ist offen, alles ist möglich. Jetzt heißt es wachsam sein, denn unsere Mitmenschen - deren Spiegel wir sind und umgekehrt - greifen gern zum Malkasten und färben die weiße Leinwand bunt, so dass wir uns gar nicht mehr wiedererkennen. Das kostet Zeit und ist energieraubend.
Jetzt ist es an der Zeit für einen Wunsch:
Wünschen Sie sich Klarheit darüber, was gut und richtig für Sie ist. Vertrauen Sie darauf, dass Sie eine Antwort auf diese Frage erhalten und haben Sie Geduld!
Alles ist mit allem verbunden, auch wenn wir das nicht immer so empfinden. Das gilt auch für alle Zeitformen: Die Erinnerung ermöglicht uns eine Reise in die Vergangenheit, die Achtsamkeit lässt uns die Beschaffenheit der Gegenwart erahnen und es ist möglich, eine Vision der Zukunft erzeugen, in der wir auf eine unerschöpfliche Quelle von Zeit und Geld zurückgreifen können. Das geht ohne Zeitmaschine, einzig durch die Fähigkeit des Visualisierens.
Kleine Schritte erleichtern uns die Veränderung. Auch diese können schwerfallen, weshalb wir auf jeden einzelnen stolz sein müssen. Ein Grund zum Feiern! Ziele entwickeln sich langsam, reifen in uns und sind nicht einfach plötzlich da. Je mehr sie sich im Lauf der Zeit konkretisieren lassen, desto näher sind wir ihnen.
Denken Sie daran, wie es sein wird, Ihr Ziel erreicht zu haben, träumen Sie und genießen Sie die malerische Schönheit dieser Szene!
Wann ist das Erreichen eines Ziels sinnvoll ?
Wir können uns innerhalb einer Gruppe oder Interessengemeinschaft auf den gemeinsamen Nutzen eines Projektes einigen oder auch darauf, dass ein Ziel einen bestimmten - monetären oder ideellen - Wert hat, aber eine Perspektive für die Zukunft können wir immer nur für uns selbst visualisieren. Es entsteht niemals bei zwei Menschen ein identisches Bild, denn Utopien sind individuell.
Sinn macht für uns ein Ziel vor allem dann, wenn wir von der Vorstellung, es erreicht zu haben, fasziniert sind und unsere Leidenschaft dafür entfacht ist. Das passiert vor allem auf emotionaler Ebene und ist nicht allein Ergebnis rationalen Vernunftdenkens.
Warum sollten wir ein Ziel erreichen wollen?
Ziele erreichen wir, weil wir es wollen, nicht weil wir es müssen. Wer weiß, warum ein Ziel von großer Relevanz ist, der gewinnt Klarheit über die Werte, die ihm wichtig sind. Zur Faszination gesellt sich deshalb zusätzlich die Motivation.
Wir brauchen starke innere Bilder. Empathie lässt uns Erfahrungen lieben, die uns tief im Innersten berühren und begeistern. So entstehen neue Räume, die wir mit Leben füllen können. Ein flexibles, aber dennoch stabiles Selbstkonzept und Selbstreflexion lassen Ziele sich entwickeln, an denen wir "feilen", bis ihre Früchte erntereif sind.
Wir finden immer wieder neue Wege der Sinnstiftung in scheinbarer Sinn- und Ziellosigkeit - ein Zustand großer geistiger Klarheit im Innen und Außen.
© Katja Tropoja
© Katja Tropoja
Schopenhauer hielt im Sommersemester 1820 an der Universität Berlin Vorlesungen über „Die gesamte Philosophie oder die Lehre vom Wesen der Welt“. Sie wurden erstmals erst 1913 vollständig
transkribiert.
Dr. Daniel Schubbe, u. a. Vorstandsmitglied der Schopenhauer-Gesellschaft, hat sie 2017 herausgegeben. Grundlage der folgenden Ausführungen bildet Teil IV, die „Metaphysik der Sitten“. Immer
wieder kommt Schopenhauer in allen Teilen auf die Tatsache des moralischen Bewusstseins zurück.
Motiv für moralisches Handeln ist, wozu uns die Empathie befähigt:
Das Mitgefühl und keineswegs unsere Vernunft, Einsicht oder sogar Überzeugung. Wenn der Andere in eine auf Anteilnahme gegründete gemeinsame Geschichte eingebunden ist, dann ist es Mitleid, das
uns Verbundenheit, Hochachtung und Sympathie empfinden lässt. Die wohl beglückendste Erkenntnis dabei ist, dass wir das Wohl eines Anderen ebenso erfolgreich bewirken und fördern können wie unser
eigenes. Wenn wir dafür Verzicht üben müssen, dann mischt sich unserem Leiden Freude bei, die sogar auch dann noch anhält, wenn unser damit verbundener Schmerz längst vergangen ist. Das ist eine
positive Erfahrung. Es gibt viele Andere und zahlreiche Geschichten, die wir miteinander teilen. Deshalb gibt es viele Gelegenheiten, diese Freude zu erfahren, wenn wir uns darauf einlassen.
„Die Tugend, die Menschenliebe, der Edelmut gehen aus von dem unmittelbaren und anschaulichen Wiedererkennen des eigenen Wesens in der fremden Erscheinung."
Erst im Lauf des Lebens können wir unseren Charakter erkennen, denn erst die Erfahrung zeigt, was wir wollen und können. Der empirische Charakter zeigt sich in einzelnen Handlungen, bleibt immer gleich und legt fest, wer jemand ist. Ihm geben wir letztlich immer nach. Was sich ändert, ist die Meinung über unsere Handlungen, die sich rückblickend als falsch erwiesen haben, nicht jedoch wir selbst und auch nicht das
handlungsauslösende Motiv in der Vergangenheit. Wir hatten gute Gründe für unser Handeln, oft mangels der für uns erkennbaren Alternativen.
Für diese Erfahrung der eigenen Tugendhaftigkeit brauchen wir immer den Anderen. Sobald wir intuitiv erkennen, dass auch er Teil des gemeinsamen Wesens ist, wird uns unmittelbar bewusst, dass die Existenz aller Individuen letztlich eine leidvolle Dimension besitzt. Die Verbindung über das gemeinsam empfundene Leiden überwindet alle Gegensätze und Distanzen und bleibt für alle zukünftigen zwischenmenschlichen Erfahrungen jederzeit wieder abrufbar und handlungsbestimmend.
„Ist diese Welt nichts weiter als eine Vorstellung, d. h. ein wesenloser Traum, ein gespensterhaftes Luftgebilde, das an uns vorüberzieht? Oder ist sie etwas Anderes, noch etwas außerdem und was ist sie dann… ?“
Bewusstsein ist vorhanden, wo wir das Gegenwärtige wahrnehmen und Vergangenes erinnern. Beides ist nur aus der Erfahrung unseres Körpers, der im Raum in Erscheinung tritt, möglich. Uns selbst und die Welt, die uns umgibt, erfahren wir somit sowohl als Vorstellung, als auch als Wille. Beides existiert in unserer Vorstellung und ist doch eine Erscheinung unseres Willens. Während wir für die Erfahrung der Vorstellung die Koordinaten von Raum und Zeit brauchen, kommt der Wille ohne diese einschränkenden Parameter aus. Er genießt die Freiheit der Vielheit des Möglichen und kennt keine Notwendigkeiten. Außerdem braucht der Willensdrang kein Motiv, denn Motive ändern nur Art und Richtung des Willens, nicht den Willen selbst.
Folgt man Schopenhauer, dann ist das Wesen des Menschen sein Wille. Die Sorge für die eigene Erhaltung, der Fortpflanzungstrieb und die Flucht vor Gefahr sind die drei Grundäußerungen des Willens zum Leben. Dieser hat Vorrang vor dem Intellekt und bejaht sich selbst. Von ihm hängt alles ab, weil der Mensch letztlich immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen ist und sein Wille alles ist, was ihm tatsächlich bleibt. So ist auch das Dasein der Welt relativ, weil abhängig vom freien Willen:
„Der Wille des Menschen bejaht fortdauernd das Leben. Als Spiegel oder Ausdruck dieser Bejahung steht die Welt da, mit unzähligen Individuen, in endloser Zeit und endlosem Raum und endlosen Leiden, zwischen Zeugung und Tod, ohne Ende. … Der Wille führt das große Trauer- und Lustspiel auf eigene Kosten auf und ist auch sein eigener Zuschauer.“
"Wir selbst sind der Wille zum Leben. Daher müssen wir leben, gut oder schlecht!“
Der Wille zum Leben strebt in erster Linie nach Selbsterhaltung. Schopenhauer nennt als weitere Erscheinungsformen die Zeugung neuen Lebens und das Unrecht, d. h. der Einbruch in die Grenze fremder Willensbejahung durch Gewalt oder List. Unrecht tut, wer das fremde Individuum zwingt, dem eigenen Willen zu dienen, bzw. nach dem eigenen Willen zu handeln. Der Unrecht-Leidende fühlt den Einbruch in die Sphäre der Bejahung seines eigenen Leibes als einen unmittelbaren und geistigen Schmerz, getrennt vom empfundenen physischen Leiden durch die Tat oder vom Verdruss durch den Verlust. Der Unrecht-Ausübende fühlt den Schmerz und erkennt die ethische Bedeutung seines Handelns, weil sich sein Gewissen meldet. Die Erkenntnis, dass unser Wille in einem fremden Körper erscheint, löst Angst und Entsetzen aus. Wir erschrecken über die Heftigkeit unseres Willens und was er bewirken kann und gewinnen in diesem Zustand schonungslose Erkenntnis über uns selbst.
„Glücklich und weise ist, wer viel erkennt und wenig will.“
Neben der Willensbejahung ist die Willensverneinung in Form von Resignation, Entsagung und Askese eine Strategie, mit der Leidensnatur des Lebens umzugehen. Ausgangspunkt ist unser Bewusstsein von der Bedeutungslosigkeit, bzw. dem Bedeutungsverlust der Welt, die so oder anders gewollt sein kann oder eben auch nicht. In diesem Bewusstseinszustand schenkt uns die Resignation Zufriedenheit, indem sie den Willen vorübergehend oder auch für immer stilllegt. Sie ist das einzige radikale Heilmittel, gegen die alle anderen Güter, alle erfüllten Wünsche und alles erlangte Glück nur „Palliativmittel“ sind, wie Schopenhauer sie nennt. Der Resignierende erkennt sein eigenes Wesen und dessen Wirkung in allem und auf alles. Die Handlung und das Erleiden, die Verursachung und das Erdulden, Aktivität und Passivität sind vereint im einzelnen Individuum. Er erkennt, dass sein Wille das Wesen dieser Welt ist, mit all ihren Erscheinungsformen. Der fortlaufende Ausdruck seines Willens in seinen Handlungen und die unbedingte Bejahung des Lebens verbinden ihn unwillkürlich mit der Welt. Sein eigenes Leiden ist nur beispielhaft für das Leiden der Welt insgesamt. In der freiwilligen Entsagung wendet der Resignierende den Willen vom Leben ab. Das Ergebnis ist wahre Gelassenheit in einem Zustand vollständiger Willenlosigkeit. Obwohl den Asketen Seelenkämpfe, Anfechtungen und Verlassenheit begleiten, hat sein Leiden eine reinigende Kraft, die die Verneinung des Willens zum Leben bewirkt.
Andernfalls weicht der Schmerz niemals ganz und wir hoffen, in der Suche nach einer äußeren, einzelnen Ursache des Leidens, Linderung zu finden. Jede Bedürfnisbefriedigung erzeugt aber neue Wünsche und ist der Anfangspunkt eines neuen Strebens, das vielfach durch äußere Bedingungen gehemmt ist und sich überall und permanent in einem Kampf befindet, der für wirkliche Reflexion und Erkenntnis keinen Raum mehr bietet.
„Jeder Wunsch entspringt einem Leiden, jede Befriedigung ist hinweg genommener Schmerz.“
Das höchste Gut und größte Glück des Menschen scheint die völlige Schmerzlosigkeit zu sein. Doch schon Epikur erkannte, dass aller Genuss von negativer Natur ist, weil er in der Beseitigung eines Schmerzes oder Unbehagens sein Wesen hat. Befriedigung und Genuss können wir nur durch Erinnerung an das vorangegangene Leiden und Entbehren erfahren, also stets mittelbar. Alle Güter und Vorteile beglücken nur, indem sie das Leiden abhalten oder ihm ein Ende bereiten. Das Maß des Notwendigen wächst mit zunehmendem Besitz, dessen Abwesenheit als schmerzhafter Mangel empfunden wird. Die Erkenntnis, dass alles Erlangte niemals leistet, was das Begehrte versprach, lässt auf die Erlösung von Mangel und Schmerz stets ein neues Leiden folgen. Durch die Wunscherfüllung ändert der Wunsch nur seine Gestalt und das Leiden beginnt von Neuem. Noch bitterer ist folgende Erkenntnis: Wenn wir durch den Genuss, den wir uns selbst verschaffen, nichts anderes tun, als uns von Leiden zu befreien, dann können wir auch für Andere nichts weiter tun, als ihre Leiden zu lindern! Das ist eine negative Erfahrung. Es gibt viele Andere und zahlreiche Bedürfnisse, denen wir begegnen können. Deshalb gibt es viele Gelegenheiten, diese Qualen zu erleiden, wenn wir uns darauf einlassen.
„Das Leben unseres Leibes ist nur ein fortdauernd gehemmtes Streben, ein immer aufgeschobener Tod.“
Das bitterste aller geistigen Leiden ist die Unzufriedenheit mit uns selbst, die gekränkte Eigenliebe, oft als Folge der Unkenntnis der eigenen Individualität. Der Wille ist überall das innerste Wesen des Lebens und das Wesen des Menschen äußert sich im Wollen. Der Mensch vergewissert sich im Wollen seines Daseins. Es ist ein Streben ohne Ziel und Ende. Das gilt für Zeit und Raum sowie für das Leben und Sterben gleichermaßen. Die Bemühungen, das Leiden zu verbannen, führen nur dazu, dass sich dessen Gestalt ändert. Der Schmerz ist dem Leben wesentlich und unausweichbar. Vom Zufall hängt nur seine Gestalt ab.
Für den Willen gibt es nicht das höchste und absolute Gute, sondern immer nur ein einstweiliges und relatives. Die Basis allen Wollens sind Bedürftigkeit, Mangel und Schmerz, während das innerste Wesen der Natur ein Streben ohne Ziel und ohne Befriedigung ist.
Das „Gute“ bezeichnet die Angemessenheit eines Objektes zu irgend einer bestimmten Bestrebung des Willens. Gut ist demnach alles, was dem Willen zusagt und seinen Zweck erfüllt.
„Wir haben den Tod so wenig zu fürchten wie die Sonne die Nacht.“
Wir müssen den Schmerz des Todes nicht fürchten, denn er liegt diesseits des Todes. Deshalb haben wir bisweilen den Wunsch, vom Schmerz zum Tod hin zu fliehen. Wir nehmen aber auch Schmerzen in Kauf, um dem Tod zu entgehen.
Das Leben ist ein Kampf um die Existenz, mit der Gewissheit, den Kampf zu verlieren. Der Wille zum Leben bedeutet Flucht vor dem Tod, oder zumindest der trügerische Wunsch danach, denn der Tod führt so wenig aus der Welt heraus, wie die Geburt hinein führt.
Freude und Schmerz werden durch Antizipation der Zukunft hervorgebracht und bedingen sich wechselseitig. Schopenhauer bezeichnet Jubel und Schmerz als Überspannungen des Gemüts, die einem Irrtum und Wahn zugrunde liegen. Durch größtmögliche Gleichgültigkeit gegen die Dinge, auf der Basis innerer, unmittelbarer und intuitiver Erkenntnis, ließe sich das aber vermeiden. Im Bewusstsein, dass unser gegenwärtiges Leiden eine Stelle ausfüllt, die, wenn dieses nicht da wäre, von einem anderen Leiden eingenommen werden würde, erkennen wir die Nichtigkeit und Bitterkeit des Lebens, die Reinigung und Heiligung ermöglichen. Deshalb kann das Schicksal uns nur wenig anhaben! Im Bewusstsein der Nichtigkeit aller Güter und des Leidens allen Lebens, im Zustand der Willenlosigkeit, zeige sich der Charakter sanft, traurig, edel und resigniert:
„Wenn wir uns als reines, willenloses Subjekt des Erkennens, als Korrelat der Idee, der ästhetischen Betrachtung hingeben, dann schweigt alles Wollen. Diese schweigende Willenlosigkeit ist der Hauptbestandteil der Freude am Schönen.“
Dem reinen Erkennen, dem Genuss des Schönen, der echten Freude an der Kunst, bleibt alles Wollen fremd. Im Zustand der reinen Kontemplation wollen wir nichts. Wir werden stattdessen zum Korrelat der Idee, zum rein erkennenden Wesen, als ungetrübter Spiegel der Welt. Der Wille bindet uns nicht mehr an die Welt. Damit schaffen wir die Grundlage für das, was wir als „joy of grief“ (Wonne der Wehmut) bezeichnen: Der Gram hat keinen bestimmten Gegenstand mehr, sondern verbreitet sich über das Ganze des Lebens und wird begleitet durch eine heimliche Freude. Der Wille verschwindet, das Leiden nimmt die Form reiner Erkenntnis an und führt die wahre Resignation und somit Erlösung herbei.
Davon weit entfernt ist der Selbstmord, der nicht Verneinung des Willens ist, sondern überaus starke Bejahung des Willens zum Leben, wobei das Streben sich nicht entfalten kann. Zerstört wird nicht das Leben, sondern dessen Erscheinung. Weil der Selbstmörder nicht aufhören kann, zu wollen, hört er auf, zu leben.
„Das menschliche Gemüt hat Tiefen, Dunkelheiten und Verwicklungen, welche aufzuhellen und zu entfalten, von der äußersten Schwierigkeit ist.“
Wenn wir uns in der fremden Person und in deren Leiden wiedererkennen, entsteht ein Machtgefühl über die eigenen Empfindungen. Unser Vorteil als Mensch besteht darin, dass die Reflexion in uns die Macht über das unmittelbare Gefühl haben kann. Was uns dann bewegt, ist Mitleid, die reinste Form der Liebe, ohne Selbstzweck. Die menschliche Vernunft kann bewirken, dass wir das Ganze sehen und nicht nur das Einzelne. Entsagung und Übung in ästhetischer Beschaulichkeit und Achtsamkeit ermöglichen die Aufhebung des Wollens, die Erlösung durch Freiheit, die Vernichtung jeder von uns konstruierten Welt: Kein Wille, keine Vorstellung, keine Welt, keine Zeit, kein Raum, kein Subjekt, kein Objekt, nur die Erkenntnis bleibt! … “ … und der Frieden, der höher ist als alle Vernunft, eine tiefe Ruhe und gänzliche Meeresstille des Gemüts“ (Schopenhauer).
„Wer das Leben bejaht, kann sich des Lebens gewiss sein. … Dem Willen ist das Leben, dem Leben ist die Gegenwart sicher und gewiss.“
© Katja Tropoja
© Katja Tropoja
Geld an sich ist formlos und zunächst ein Produkt unseres Geistes. Zum sichtbaren Körper wird es erst, wenn es im Tauschvorgang einen ökonomischen Wert angenommen hat und eine Beziehung zwischen verschiedenen Objekten hergestellt ist. Das gilt sowohl für Personen, als auch für Gegenstände. In diesem indifferenten Durchgangsstudium des Tausches und der Erzeugung von Wertrelationen haben wir eine Chance, die Ästhetik des Geldes als Äquivalent der Dinge zu finden und auch selbst zu gestalten.
Subjektiv freuen können wir uns über Geld aufgrund seiner Abstraktheit und Absolutheit nicht. Auch der Antizipation von Zukünftigem erweist es keinen Dienst, denn dieser Vorgang verlangt
ebenfalls Subjektivität. Es verschafft uns aber das, was G. Simmel den „Reiz der Resignation“ nennt, der nur aus objektiver Freude auf das, wozu uns Geld in der Zukunft verhilft, entstehen kann.
Diffuse Ungewissheit impliziert stets die Grenzenlosigkeit unserer Visionen, Möglichkeiten und geplanter Endzwecke in einer objektiven Gegenwart. Ob unser gegenwärtiger Besitz tatsächlich in
Zukunft von hohem Wert sein wird, ist ungewiss.
Mit Geld lässt sich nahezu alles objektiv messen und kategorisieren:
„Im Geld hat der Wert der Dinge seinen reinsten Ausdruck und Gipfel gefunden."
(Georg Simmel in: Die
Philosophie des Geldes)
Obwohl Geld selbst keinen Inhalt hat, erfüllt seine Existenz einen Sinn. Es besitzt Gültigkeit und Wirksamkeit zu jedem Zeitpunkt, denn es gewährleistet unbedingte Fungibilität, d. h. mengen- und wertmäßige Bestimmbarkeit und Austauschbarkeit von wirtschaftlich relevanten Objekten, auch von Personen. So wird es zugleich Symbol und Ursache für den absoluten Bewegungscharakter der Welt, für elementare Vergleichgültigung, Veräußerlichung und wechselseitige Abhängigkeiten.
Die Geldhaftigkeit der Beziehungen erzeugt einerseits Distanz zwischen Menschen, die vor zu viel Nähe und Reibung schützt. Geld schenkt uns Abstraktheit und Freiheit von Rücksichtnahme auf Dinge und von Unmittelbarkeit der Beziehung zu ihnen. Es stellt ein Gleichgewicht her zwischen Annäherung, Berührung, Schwingung und Stillstand.
Zwischen Menschen und deren Interessen schafft Geld andererseits die notwendige Verbindung und die gemeinsame Basis. Es schafft ein gemeinsames, zentrales Interesse und wird selbst zum Zweck erhoben. Geld prägt die objektive Kultur, alle zwischenmenschlichen Beziehungen und unsere materialisierten Lebensinhalte. Auch Aufmerksamkeit, Zustimmung, Zuneigung und Wohlwollen kann man kaufen und verkaufen.
„Wo nur immer viele Menschen zusammenkommen, wird Geld verhältnismäßig stärker erfordert werden. Denn wegen seiner an sich indifferenten Natur ist es die
geeignetste Brücke und Verständigungsmittel zwischen vielen und verschiedenen Persönlichkeiten; je mehr es sind, desto spärlicher werden die Gebiete, auf denen andere als Geldinteressen die Basis
ihres Verkehrs bilden können."
(Georg Simmel in: Die Philosophie des Geldes)
Geld erfüllt seine Funktionen, indem wir es weitergeben und -bewegen. Es entäußert sich permanent selbst. Seit dem beginnenden Kapitalismus stellt auch die Zeit einen Wert dar. Brauchbarkeit und
Knappheit bestimmen dessen Höhe. Damit einher geht seit dem
15. Jahrhundert ein Kondensierungsprozess, der Werte zunächst in die Geldform und diese später in die Börsenform transformierte. Zuvor eckige Münzen wurden rund gefertigt, im 18. Jahrhundert gab
es z. B. sog. Kugelgeld in Ägypten und mit steigender Geldwirtschaft ging man dazu über, ganze Geldsummen „abzurunden“.
Die Rundheit symbolisiert die Bewegungsdynamik, die das Geld dem Geldverkehr verleiht. Es zirkuliert immer schneller im eingangs erwähnten Tauschvorgang und auch in den Beziehungen zwischen Objekten, denen so der reine Geldcharakter verliehen wird.
Diese Beschleunigungstendenzen nahm G. Simmel bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wahr:
„In der Wirklichkeit dauern die Dinge überhaupt keine Zeit, durch die Rastlosigkeit, mit der sie sich in jedem Moment der Anwendung eines Gesetzes darbieten, wird jede Form schon im Augenblick ihres Entstehens wieder aufgelöst, sie lebt sozusagen nur in ihrem Zerstörtwerden, jede Verfestigung zu dauernden Dingen ist eine unvollkommene Auffassung, die den Bewegungen der Wirklichkeit nicht in deren eigenem Tempo zu folgen vermag. So ist es das schlechthin Dauernde und das schlechthin Nicht-Dauernde, in die und deren Einheit das Ganze ohne Rest aufgeht.“
(Georg Simmel in: Die Philosophie des Geldes)
Unser Bewusstsein ist nur beschränkt aufnahmefähig, deshalb nutzen wir es kräfteschonend und möglichst zweckorientiert. Nur wenige Facetten eines Objektes unseres Interesses finden unsere Beachtung. Simmel empfiehlt, alle Kraft auf das zu konzentrieren, was unmittelbar und kurzfristig notwendig ist:
„Dadurch, dass der Endzweck immer im Bewusstsein ist, wird eine bestimme Summe von Kraft verbraucht, die der Arbeit an den Mitteln entzogen wird. Das praktisch Zweckmäßigste ist also die volle Konzentration unserer Energien auf die nächst zu verwirklichende Stufe der Zweckreihe; d. h. man kann für den Endzweck nichts Besseres tun, als das Mittel zu ihm so zu behandeln, als wäre es er selbst.“
(Georg Simmel in: Die Philosophie des Geldes)
Beide sind Ergebnis der Reduktion „höherer Werte“ auf den Mittelwert des Geldes und auf beiden gründen sich Geiz und Geldgier. Der antike Zynismus hatte zunächst ein positives Lebensideal: Die unbedingte Seelenstärke und sittliche Freiheit des Individuums. Diesen Werten ordnet der Zyniker alle anderen Werte unter. Sie sind ihm gleichgültig. An dieser Stelle hat Geld die Funktion, die höchsten wie die niedrigsten Werte gleichmäßig auf eine Wertform zu reduzieren und sie auf dasselbe prinzipielle Niveau zu bringen. Der Blasierte fühlt alle Dinge in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung. Er besitzt eine Indifferenz gegenüber den Dingen, bzw. ihrer Unterschiedlichkeit, weil allzu starke Reize alle Reaktionsfähigkeit aus den Nerven herauspumpen.
Ist Geld Ausdruck und Aquivalent aller Werte? Ist es Zentrum aller Gegensätzlichkeiten? Besitzt Geld Allmacht? Sicher nicht, aber es symbolisiert am deutlichsten die Relativität der Dinge und das Befangensein des Lebens in seinen Mitteln. Geiz und Geldgier basieren auf dieser zweckhaften Eigenschaft des Geldes.
Wir können uns am Geld erfreuen, ohne es zu begehren, denn es ist unabhängig von unserer subjektiven Bewertung und zunächst auch frei von den dargestellten Zweckeigenschaften.
Dinge, die einen konstanten Wert haben – wie z. B. die Schönheit, die Ordnung und Bedeutsamkeit des Universums, etc. – bedürfen nicht des Konsums und sie sind zeitlos. Fragen nach Sinnhaftigkeit, Brauchbarkeit und Knappheit spielen bei konstanten Werten keine Rolle. Dennoch entdecken wir in ihnen die Ästhetik und können uns subjektiv an ihnen erfreuen. Konstante Werte genügen sich selbst. Nur unser Blickwinkel entscheidet, was Mittel und was Zweck sein soll. Die Kunst stellt so einen konstanten Wert und die typisch-allgemeinen Züge der Erscheinungen dar. Sie appelliert an die typischen Seelenregungen in uns : „Es ist der ganze Sinn der Kunst, aus einem zufälligen Bruchstück der Wirklichkeit eine in sich ruhende Totalität, einen Mikrokosmos zu gestalten.“ (G. Simmel in: Die Philosophie des Geldes).
„Die Kunst gründet ihren prinzipiellen Anspruch auf allgemeine subjektive Anerkennung, auf die Ausschaltung alles Zufällig-Individuellen in ihrem Objekt.
Alle Kunst verändert die Blickweite, in die wir uns ursprünglich und natürlich zur Wirklichkeit stellen. Jede Kunst stiftet eine Entfernung von der Unmittelbarkeit der
Dinge.
(Georg Simmel in: Die Philosophie des Geldes)
© Katja Tropoja
© Katja Tropoja
Unser Denken kann ohne Prämissen auskommen, unser Erkennen jedoch nicht. Darüber hinaus ist der Prozess des Erkennens nicht voraussagbar und er findet keinen Abschluss. Er ist stattdessen stets fragmentarisch, diskontinuierlich und stark abhängig von weiteren Parametern. Die Darstellung und Untersuchung dieser Prämissen des Erkennens obliegt der Philosophie, die aber nur durch prämissenloses Denken möglich ist.
Letztlich denken wir nach, weil wir auf der Suche nach uns selbst sind, denn Verlässlichkeit, Substanz und Absolutheit finden wir in erster Linie dort, nicht im Außen. Wenn wir unser Denken auf uns selbst fixieren und unser Leben nach uns selbst ausrichten, dann sind wir uns selbst genug und erst dann sind wir zu bedingungsloser Liebe fähig.
Alles, was objekthaft außerhalb von uns ist, kann nützlich und schön sein, ist aber letztlich nicht von Bedeutung. Eine Beziehung dazu bringt uns unserem Selbst nicht näher: „Am Objekt erlahmt unsere Freiheit“ - sagt Georg Simmel, weil wir es nicht assimilieren können. Es bleibt in seinem Sein unberührt. Es ist der Zustand der Befriedigung, der erstrebenswert ist, nicht das sachlich bedeutsame Objekt an sich:
„Erst der Aufschub der Befriedigung durch das Hindernis, die Besorgnis, das Objekt könne einem entgehen, bringt die Intensität des Wollens und die Kontinuität des Erwerbens.“
(Georg Simmel in: Die Philosophie des Geldes)
Von Bedeutung sind demnach der Entzug sowie die Distanz zwischen Wunsch und Wunscherfüllung, die Ergebnis des Denkens ist, nicht das Objekt selbst. Nur aus dieser gedachten Distanz kann ein Raum entstehen und dieser Raum heißt Möglichkeit. Er liegt stets in der Zukunft. Trotzdem können wir uns in der Gegenwart in ihm aufhalten. Die Distanz ist somit keine räumliche, sondern eine zeitliche, denn wir können den Raum der Möglichkeiten jederzeit betreten und auch immer wieder verlassen.
Während wir das Objekt sinnlich erfassen und dabei Freude empfinden, gibt es sich uns hin. In der ästhetischen Freude hingegen bleibt das Objekt passiv, denn wir geben uns dem Objekt hin. Genuss und Nutzen scheinen dafür die Voraussetzung zu sein, ebenso Sinnhaftigkeit und Harmonie. Besonders attraktiv erscheint uns, was symmetrisch, ausgeglichen und ebenmäßig ist, was sich um ein Zentrum herum an- und einordnen lässt. Auch die Natur fordert Symmetrie, nämlich die der Seele. In der Natur der Seele liegt es wiederum, Unterschiedlichkeit zu schaffen, wo sich Gleiches bereits etabliert hat. Die Seele resultiert aus dem Zustand der Welt, deren „Wahrheit“ ein Produkt unserer Vorstellungen und das Ergebnis unserer Seelenarbeit ist. Dieses Weltbild „schwebt in der Luft“, wie G. Simmel sagt und ist „für niemanden ein Spiegelbild der Dinge an sich“. Was wir als Wahrheit bezeichnen, resultiert aus den wechselseitigen Beziehungen in einem Raum, der die Produkte unserer Imagination und Suggestionen beherbergt.
Das Denken ist die fundamentale Leistung unseres Geistes und die Bewusstseinsarbeit ist die bedeutsamste und folgenreichste unter den historischen Kategorien der Menschheit. Erst die durch Denken erzeugte Vergegenständlichung des Geistes schenkt dem Menschen (s)eine Welt.
Nur aus der Erfahrung unmittelbarer Gegenwart heraus ist die Vergangenheit deutbar und lebendig. Die Gegenwart ist der Schlüssel zur Vergangenheit und umgekehrt gilt: Nur die Vergangenheit lässt uns die Gegenwart begreifen – eine ruhelose Gegenseitigkeit der Deutungselemente:
„Wenn wir historisch denken, so ist die Sele mit all ihren Formen und Inhalten ein Produkt der Welt - eben dieser Welt, die doch, weil sie eine vorgestellte ist, zugleich ein Produkt der Seele ist.“
(Georg Simmel in: Die Philosophie des Geldes)
Alle Formen und Dinge sind das Ergebnis vergangener Ereignisse, die so viel Kraft hatten, unsere Gegenwart und unser Denken zu beeinflussen:
„Wenn ein Gegenstand uns in der Vergangenheit Freude bereitet hat, dann reicht in der Gegenwart der bloße Anblick oder auch nur die bildhafte Erinnerung daran, um ein Glücksgefühl hervorzurufen. Seine erneute Konsumption ist dafür nicht mehr notwendig.“
(Georg Simmel in: Die Philosophie des Geldes)
© Katja Tropoja
© Katja Tropoja
Der Platonschen Ideenlehre folgend, liefern uns die Ideen den Inhalt unseres Lebens, innerhalb unserer individuellen Wertewelt und Wirklichkeit. Das umfasst alles, wofür wir einen Begriff suchen
und finden können, dem wir einen Namen geben können und was irgendeine Art von Qualität hat.
Das Hauptmerkmal unserer ideenhaften Vorstellungen ist dabei die Subjektivität, denn indem wir bewerten, urteilen wir stets subjektiv über ein bestimmtes Attribut einer Sache und deren Bedeutung
für uns. Ohne Begriffe gibt es keine Ideen und ohne Ideen keine Werte. Quantität und Qualität von Werten und deren Veränderung verleihen dem Leben Tiefe und bestimmen dessen subjektiv empfundenes
Tempo.
„Indem wir begehren, was wir noch nicht haben und genießen, tritt dessen Inhalt uns gegenüber. (…) Der Inhalt wird Gegenstand, sobald er uns entgegensteht, (…) in der Distanz des Nochnichtgenießens, deren subjektive Seite das Begehren ist.“, schreibt Georg Simmel 1900 in einem seiner Hauptwerke „Die Philosophie des Geldes“. Das Begehren sei die erste Stufe der Annäherung, die erste ideelle Beziehung zu ihm. Mit der Distanz wachse die Annäherung.
Ob uns eine Sache begehrensWERT erscheint, hängt nicht allein davon ab, ob sie brauchbar ist und SeltenheitsWERT besitzt, sondern in erster Linie von den Gefühlen, die sie in uns auslöst. Emotionen bestimmen unser Denken und Handeln. Aber sind sie tatsächlich notwendig, um einer Sache Sinn zu verleihen?
Nicht das Objekt an sich löst unmittelbar einen wie auch immer gestalteten Affekt bei uns aus, sondern seine Bedeutsamkeit für uns, seine Seltenheit, seine Ersetzbarkeit, die Schwierigkeiten und Hindernisse, die zu seiner Erlangung überwunden werden müssen, seine (räumliche) Entfernung von uns, die Geduld, die wir aufbringen müssen oder die Option, etwas endgültig zu verlieren, ganz darauf verzichten und aufgeben zu müssen und letztendlich enttäuscht zu scheitern. Das Objekt an sich hat zunächst gar keinen Wert. Bedeutung hat erst, was von Unsicherheit des Fortbestands und der Erreichbarkeit gekennzeichnet ist.
Wir konsumieren den Wert eines Objektes im Zustand dessen Genusses, mit Überwindung aller Hindernisse, die uns von ihm trennten. Neu entstehen kann er erst mit der Distanz.
Werte stehen außerhalb des Dualismus von Subjekt und Objekt und sie sind nicht darauf angewiesen, anerkannt zu sein, sie sind metaphysischer Natur, denn:
Auch wenn ein Wert keine Anerkennung erfährt, büßt er damit nichts von seinem Wesen ein!
Wenn wir ein Objekt gegen ein anderes eintauschen, haben wir die unmittelbarste und direkteste Verbindung zur Welt der Werte. Wir setzen einen Wert ein, um einen anderen zu erhalten, verzichten auf etwas, um im Gegenzug zu erhalten, was wir als gleich- oder höherwertig ansehen. Im Tausch erkennen wir am deutlichsten, was uns und anderen Menschen wichtig ist. So schaffen wir Klarheit, Übereinstimmung und Verständigung in der Kommunikation in allen Lebensbereichen, nicht nur in der Ökonomie:
„Die Wirtschaft leitet den Strom der Wertungen durch die Form des Tausches hindurch, gleichsam ein Zwischenreich schaffend zwischen den Begehrungen, aus denen alle Bewegung der Menschenwelt quillt, und der Befriedigung des Genusses, in der sie mündet.“
(Georg Simmel in: „Die Philosophie des Geldes“).
Außerhalb dieser Tauschhandlungen bleiben unsere Werte mehr oder weniger unkonkret und abstrakt, obwohl sie uns während unseres ganzen Lebens begleiten. Oftmals ohne es bewusst wahrzunehmen, stellen wir permanent irgend etwas mit ihnen an: Wir wiegen sie gegeneinander auf, erstellen eine Rangliste, drängen sie anderen Menschen auf. Wir errichten ein Gebäude aus Werten, in dem wir uns zuhause fühlen dürfen. Schließlich zeichnen wir mit Wertvorstellungen unser buntes Bild von der Welt. Dabei machen Kontrast und Vielfalt unsere Wertewelt komplett: Der Wechsel in der Wertigkeit, aber auch die Beständigkeit in dem, was wir gewohnt sind und was uns vertraut ist.
Erst in der Selbstgenügsamkeit, im Zurückziehen in uns selbst, schaffen wir eine Verbindung zu den Dingen. Nur aus dieser Verbindung heraus können wir von ihnen abrücken und uns distanzieren. Das Uneinssein mit ihnen und das Nicht-Besitzergreifen müssen wir akzeptieren, denn ohne Distanz haben wir keinen Überblick, ohne Verallgemeinerung erkennen wir nicht die Details. Nur aus der Entfernung heraus kann uns das, was sich uns aus der Nähe heraus betrachtet diffus begehrenswert, merkwürdig bedeutsam, unruhig und ungeordnet präsentiert, nicht mehr den Blick verklären. Diese - oft schmerzhafte - Distanz schafft jedoch den Raum, in dem beständige Werte entstehen können. In dieser Welt konsumieren wir nicht, müssen nicht besitzen, um uns vollständig zu fühlen. Nur weil wir uns selbst genügen, verlieren Objekte nicht an Wert, sondern im Gegenteil: In dieser Wertewelt finden wir vollendete Sinnhaftigkeit und die Fähigkeit zu umfassender Erkenntnis aller Wertzusammenhänge.
© Katja Tropoja
© Katja Tropoja
Niklas Luhmann, einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, lieferte eine umfangreiche systemtheoretische Gesamtschau sozialer Wirklichkeit. Er analysierte und erforschte vor allem die sozialen Erscheinungsformen der modernen Gesellschaft. „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ von 1997 ist das Hauptwerk seiner Gesellschaftstheorie.
Die moderne Gesellschaft ist eine Kombination verschiedener Teilbereiche. Dazu gehören zum Beispiel die Politik, die Wissenschaft, die Kunst, die Religion, die Wirtschaft, usw. Alle unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Funktionen und Handlungsweisen voneinander, aber alle haben den gleichen Stellenwert. Alles, was sich gesellschaftlich ereignet, steht in einem mehrdimensionalen Kontext dieser Vielzahl von Teilsystemen. Auf jedes einzelne sind wir angewiesen, denn jedes trägt dazu bei, dass die Gesellschaft sich reproduzieren kann. Deshalb gibt es nicht nur eine soziale Wirklichkeit, sondern so viele wie es teilsystemische Sichtweisen gibt. Das meint Luhmann mit gesellschaftlicher Reproduktion. Die Einheit der Gesellschaft ist nichts anderes als diese Differenz der Funktionssysteme; sie ist nichts anderes als deren wechselseitige Autonomie und Unsubstituierbarkeit. Die Leistung eines wegfallenden Teilsystems kann nicht durch die Mehrleistung eines anderen ersetzt werden, denn:
„In funktional differenzierten Gesellschaften gilt (…): das System mit der höchsten Versagensquote dominiert, weil der Ausfall von spezifischen Funktionsbedingungen nirgendwo kompensiert werden kann und überall zu gravierenden Anpassungen zwingt.“
(Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997)
Ein gesellschaftliches Ereignis ist erst dann von Bedeutung, wenn es kommuniziert wird. Erst dann treten die Teilsysteme in Beziehung zueinander und kooperieren miteinander, bleiben aber immer klar voneinander abgegrenzt. Sie finden keine gemeinsame Sprache und können deshalb die Intention der anderen Bereiche nicht nachvollziehen. Dennoch sind sie für systemfremde Einflüsse zumindest durchlässig. Dadurch entsteht, was Luhmann strukturelle Kopplungen nennt. Diese sind wiederum eng miteinander vernetzt, was systemintegrative Prozesse überhaupt erst ermöglicht und garantiert. Im Idealfall verhindern diese Kopplungen, dass die Aktivitäten eines gesellschaftlichen Teilsystems in einem anderen negative Wirkung entfalten können.
Luhmann geht nicht von einer (Lebens-)Sinnentleerung des modernen Menschen aus, sondern stellt vielmehr fest, dass gar keine Leere entstehen kann. Jedes Vakuum wird durch immer neue Erwartungen an die Teilsysteme ersetzt. Der Mensch als Teil der modernen Gesellschaft beansprucht Leistungen dieser Systeme, zu denen sie sich selbst verpflichtet haben. Er setzt deshalb deren Bringschuld voraus. Luhmann bezeichnet diese Entwicklung als Anspruchsindividualismus, der in Anspruchsinflationen münden kann.
Er sieht einen Zusammenhang zwischen dem, was einerseits der moderne Individualist von gesellschaftlichen Teilsystemen erwartet und dem, was diese andererseits bieten und versprechen:
„Funktionsautonomie und Anspruch verzahnen sich ineinander, begründen sich wechselseitig, steigern sich im Bezug aufeinander und gehen dabei eine Symbiose ein, der gegenüber es keine rationalen Kriterien des richtigen Maßes mehr gibt.“
(Niklas Luhmann: Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum. 1987).
Die Teilsysteme setzen global auf Wachstumssteigerung, um Verteilungskonflikte zu verhindern. Vor allem in den Bereichen Finanzen und Bildung sind die Grenzen dieses Vorgehens schnell erreicht. Besonders problematisch wird es, wenn behauptet wird, dass Wachstum gar keine Grenzen kennt.
Die Exklusivität eines Teilsystems bedeutet in der Regel den Ausschluss bestimmter Personengruppen aus weiteren Teilsystemen, da diese auf vielfache Weise
voneinander abhängen. Wer keinen Zugang zu Bildung hat, hat keinen Zugang zum Arbeits- und Kapitalmarkt, zum Gesundheits- und Freizeitmarkt, zu politischer Teilnahme, usw. Oft findet dann auch
keine räumliche Inklusion statt, was gut an der Ghettobildung in Großstädten abzulesen ist. Teile der Gesellschaft werden damit aus sämtlichen Systemen geworfen. Sie sind nicht mehr im
Spiel.
Ein Jahr nach dem Erscheinen seines gesellschaftstheoretischen Hauptwerkes ist Niklas Luhmann verstorben. Seitdem sind zwanzig Jahre vergangen. Eine Umsetzung seiner Lösungsansätze ist nicht erkennbar.
© Katja Tropoja
© Katja Tropoja
Der Entwurf immer neuer Modellkonstruktionen mit dem Ziel, einen Idealzustand zu erreichen, ist ein Kind der Aufklärung und vollzieht sich in einem unendlichen und immer wiederkehrenden Prozess. Deshalb sei die Veränderung das Grundprinzip der Moderne, sagt der Soziologe Richard Münch 1996 in dem Artikel „Modernisierung und soziale Integration“ der Schweizerischen Zeitschrift für Soziologie (Nr. 22). Würden wir die Realität - oder das, was wir für „real“ halten - nicht ständig mit dem Bild des von uns gewünschten Soll-Zustands abgleichen, wäre Kommunikation nicht mit der hohen Geschwindigkeit, der großen Reichweite und der Informationsdichte notwendig, mit der sie gegenwärtig stattfindet.
Widersprüche rufen stets Aktivitäten zu deren Abarbeitung hervor. Diese Aktivitäten erzeugen dann wieder neue Widersprüche. So entwickeln sich Kultur und Gesellschaft in einem Kreislauf des Erzeugens, Abarbeitens und Wiedererzeugens von Widersprüchen. In dieser Dialektik von Kultur und Gesellschaft erkennt Münch den Motor der unablässigen Gesellschaftsveränderung. Besonders zeige sich das in den paradoxen Phänomenen des Rationalismus, des Individualismus, des Universalismus und des instrumentellen Aktivismus:
Um uns für eine bestimmte Handlungsoption entscheiden zu können, müssen wir uns informieren. Problematisch dabei ist zunächst, dass uns Informationen in einem Ausmaß überfluten, die uns keine Kategorisierung in richtig und falsch, wichtig und unwesentlich erlauben. Darüber hinaus ist das gestern erworbene Wissen morgen schon wieder obsolet, weil sich vor allem wissenschaftliche Erkenntnisse sehr schnell fortentwickeln. Die Folgen unserer Entscheidungen sind deshalb ungewiss, rationales Denken und Handeln sind nur begrenzt möglich. Wir müssen auf andere Werkzeuge zurückgreifen, unsere Intuition zum Beispiel.
In modernen Gesellschaften ist die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen selten obligatorisch und auch nicht notwendig für das Überleben. Der Nachteil ist aber, dass mit der gewonnen Freiheit und Ungebundenheit auch unsere Möglichkeiten sinken, auf Menschen und Gegebenheiten einzuwirken. Innerhalb eines überschaubaren Personenkreises hat unser Einfluss sehr viel mehr Gewicht. Letztlich geraten wir in die Abhängigkeit von willkürlichen Entscheidungen durch Personen, die wir gar nicht kennen und denen wir ebenfalls fremd sind. Außerdem ist Individualismus eine Eigenschaft, die alle Mitglieder einer modernen Gesellschaft zur gleichen Zeit besitzen. Das heißt: Viele Individualisten vertreten eine Vielzahl individueller und heterogener Interessen, die sie regelmäßig auch geltend machen, womit sie die Individualität des Einzelnen gefährden.
Die Intensität der Verbundenheit des Einzelnen mit anderen Individuen entwickelt sich umgekehrt proportional zu der Anzahl der Verbindungen, die er eingeht. Je enger und abgeschlossener der Personenkreis, desto stärker die Bindung. Flexibilität, Kurzfristigkeit und Oberflächlichkeit des aufeinander bezogen seins führen zu Unverbindlichkeit und Ungebundenheit.
Alle Verbesserungswünsche und Interventionen in Bezug auf Umfeld und Umwelt führen dazu, dass immer neue Probleme entstehen. Besonders geschieht das, wenn es das Ziel ist, Gerechtigkeit und Gleichheit herzustellen. Mittel- bis langfristig bedeutete das in der Geschichte stets einen Nachteil für andere Teile der Gesellschaft.
Diese Paradoxien bedeuten ein Risikopotential moderner Gesellschaften. Während wir versuchen, die Realität dem Ideal anzunähern, existieren sie weiter. Interpenetrationsprozesse und kommunikative Dynamiken können dabei regulierend eingreifen.
Dem Wunsch, die Abweichung zwischen Soll- und Istzustand aufzulösen, folgt in der Regel ein Handlungsimpuls. Dieser impliziert stets, dass eine Leistung zu erbringen ist. Wenn wir mehr oder besser leisten, kommen wir dem Ideal näher. Dieser Prozess nimmt jedoch, wie bereits erwähnt, kein Ende. Deshalb gibt es auch für unseren Leistungsanspruch keine Grenze - weder hinsichtlich der Effizienz, noch in Form einer Ausweitung in die Handlungsspielräume anderer soziokultureller Teilsysteme. Wir penetrieren diese Systeme wechselseitig, infizieren sie mit unseren Idealvorstellungen und absorbieren die Intentionen und Handlungsimpulse der jeweils systemfremden Akteure. Besonders deutlich wird das auf Makroebene in den Bereichen Ökonomie und Politik, wo ein Zuviel an Außenleistung erheblichen Schaden verursachen kann.
Die Lösung sieht Münch in einer Entwicklung von expansivem Verhalten hin zu Verzicht und Beschränkung. Dabei müssten entweder alle Akteure gleichermaßen zum Verzicht bereit sein oder die Expansion müsste an vordefinierte und streng reglementierte Prämissen gekoppelt sein. Beides führt erstens zu einem Verlust an Individualismus und zweitens zu Ungleichverteilung und damit potentiell zu ausgeprägtem Unrechtsempfinden oder sogar Fundamentalismus.
Gesellschaftliche Teilsysteme besitzen jeweils eigene Orte der Kommunikation, an denen durch Interpenetration verursachte Konflikte ausgetragen werden. Neben einem gesellschaftlichen Zwang zur Kommunikation erkennt Münch darüber hinaus eine Sprach- und Wortinflation:
„Kommunikation fordert Kommunikation heraus. Deshalb ist anzunehmen, dass vermehrte Kommunikation stets noch mehr
Kommunikation erzeugt. Auf Fragen müssen Antworten kommen, auf Antworten neue Fragen, auf Behauptungen Widerlegungen, auf Widerlegungen neue Behauptungen, auf Thesen Antithesen. Kommunikation
produziert sich in diesem endlosen Prozess der Assertion und Negation immer wieder neu und wuchert aus sich selbst heraus unablässig.“
(Richard Münch
in: Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, 1995)
Der Journalismus habe über die Inflation der Worte zu wachen wie die Notenbank über die Geldwertstabilität, sagt Münch. Er muss informieren, analysieren und prüfen, ob Behauptungen wahr sind. Zunehmend übernimmt er zusätzlich eine darstellende und vermittelnde Funktion in öffentlichen Diskursen. Es ist deutlich zu erkennen, dass die kommunikative Dynamik der Moderne den Journalismus bereits für sich vereinnahmt hat. Außerdem muss er sich in wirtschaftliche Rahmenbedingungen fügen und Journalisten unterliegen einem globalen Konkurrenzdruck. Seiner Kontrollfunktion wird der Journalismus immer dort nicht gerecht, wo er selbst als Akteur die Wortinflation beschleunigt und anfeuert.
Politik wird nicht mehr medial vermittelt, sondern virtuell, d. h. in der Kommunikationsgesellschaft bilden mediales Berichten über Politik und die Politik selbst eine Einheit. Politiker agieren so, wie es in der Öffentlichkeit am vorteilhaftesten wahrgenommen und thematisiert wird. Was zählt ist somit die Art und Weise, wie argumentiert wird, nicht der Inhalt selbst. Zentrales Motiv ist stets der Wunsch nach Aufmerksamkeit durch die Öffentlichkeit. Eine inflationäre Sprache in der Politik bewirkt deshalb inflationäre Tendenzen politischer Machtausübung. Wer viel erzählt und verspricht, der wird einiges davon nicht halten können. Enttäuschte Erwartungen und ein Verlust an Authentizität sind die Folge.
Demokratische Systeme sind auf die Bildung von Mehrheiten angewiesen, die politische Entscheidungen stützen. Je mehr aber die Mehrheiten durch massenmediale Stimmungserzeugung gebildet werden, umso mehr muss erfolgreiche Politik nach den Maßstäben massenmedialer Ereignisproduktion betrieben werden. Leider neigen jedoch Stimmungen dazu, zu schwanken. Politiker müssen deshalb „flexibel“ sein, den Standpunkt mit der Stimmungslage ändern und sich als charismatische Person jeweils neu in Szene setzen. Das bedeutet eine tiefgreifende Veränderung unserer politischen Kultur mit einem drohenden Verlust der Loyalität breiter Bevölkerungskreise:
„Der Weg der Kommunikation geht jetzt nicht mehr vom Ereignis zu dessen Darstellung, sondern vom Inszenierungszwang zur Erzeugung der Ereignisse. Die Differenz von Darstellung und Realität hebt sich auf in der Virtualität eines verselbständigten Inszenierungsstromes. Es gibt keine Realität mehr, anhand derer der Wahrheitsgehalt einer Darstellung geprüft werden könnte.“
(Richard Münch, 1997: Mediale Ereignisproduktion: Strukturwandel der politischen Macht. In: Stefan Hradil (Hrsg.), Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden 1996).
Münch setzt zur Lösung auf institutionalisierte Vermittler, die den Dialog der unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsysteme fördern. Seiner Meinung nach können der Staat und große Interessenverbände diese Funktion nicht erfüllen, da diese zu wenig auf Interdisziplinarität setzten. Die Politik müsse sich stattdessen jenseits von Öffentlichkeitswirkung und Inszenierungszwang kompromissbereit auf eine kleinformatigere, inoffizielle Kommunikationsebene zurückziehen. Nur so sei ein systemübergreifender Perspektivenwechsel realisierbar.
Universale und unkonkrete Normen der Moral dringen durch global vernetzte Kommunikation in sehr private und persönliche Bereiche vor. Aufgrund der Universalität und Beliebigkeit dieser Normen kann aber oft kein emotionaler Bezug zu dem mehr oder weniger anonymen Personenkreis hergestellt werden, mit dem wir uns solidarisieren und identifizieren sollen. Empathie erfordert aber ein Mindestmaß an Verbundenheit. Dennoch gelingt es dieser moralischen Universalität mit modernen Kommunikationsformen und starken Bildern, das durch Tradition und persönliche Bindung an uns nahestehende Menschen gewachsene Moralkonstrukt teilweise aufzubrechen. Es wird ersetzt durch einen Appell an unsere Eigenverantwortlichkeit und Handlungsfreiheit in Bezug auf ein sehr allgemeines Moralprinzip:
„Die vom moralischen Universalismus geforderte grundsätzliche moralische Achtung eines jeden wird dann massenhaft durch moralisch verwerfliches Handeln widerlegt. (…) Das sind Wellen der Entwertung moralischer Achtung, die dazu führen, dass entgegengebrachte moralische Achtung immer weniger mit moralisch richtigem Handeln rechnen kann. In der umgekehrten Richtung bedeutet moralische Deflation einen Rückzug der Achtungszuteilung auf die partikularen Lebensgemeinschaften, so dass über ihre Grenzen hinaus überhaupt keine moralische Regulierung des Handelns mehr möglich ist.“
(Richard Münch in: Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, 1995)
Hoffnung setzt Münch dabei auf eine Kombination aus kompetentem Umgang mit Medien, der Arbeit von Lobbyisten und verantwortungsvollen politischen Entscheidungsträgern mit einem gemeinsamen moralischen Ziel: Dem größtmöglichen Nutzen der größtmöglichen Zahl an Menschen.
Die Moderne ist widersprüchlich und paradox, sonst könnte sie sich nicht fortlaufend erneuern. In pluralistisch geführten Diskursen können wir nach Wegen suchen, damit umzugehen. Die Dialektik ist dabei die Antriebsfeder. Wir können sie und das daraus resultierende Konfliktpotential zwar teilweise kontrollieren, aber nicht negieren:
„Die modernen Gesellschaften sollen die perfekte Ordnung durch aktives Tun schaffen und verfangen sich zwangsläufig in den Fallstricken der nichtintendierten bösen Folgen guter Absichten. Dieser Stachel im Fleisch der Moderne ist es, der immer wieder neue Versuche veranlasst hat, den Stachel herauszureißen, die Widersprüche an der Wurzel zu packen und die Moderne in ihrem Fundament neu zu einem widerspruchsfreien System zu ordnen. … Als Fundamentalismus einer oppositionellen Minderheit drängt er zu politischem Terrorismus, als Fundamentalismus einer herrschenden Minderheit oder Mehrheit drängt er zum Totalitarismus.“
(Richard Münch in: Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, 1995)
© Katja Tropoja
© Katja Tropoja
Als der Soziologe Ulrich Beck 1986 mit seinem Buch „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ einen Ausblick auf zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen gab, war die nukleare Katastrophe von Tschernobyl noch nicht eingetreten. Die klassische Industriegesellschaft gehörte aber bereits der Vergangenheit an. Ihre eigene Dynamik bereitete einer reflexiven Modernisierung und infolgedessen der Risikogesellschaft, wie Beck sie nennt, den Weg. In ihr muss sich die einstige Industriegesellschaft mit latenten und selbst erzeugten Modernisierungsrisiken auseinandersetzen. Reflexiv bedeutet hier, dass der Prozess der Modernisierung und dessen Verselbständigung sich selbst zum Gegenstand werden. Deren Eigendynamik beschleunigt Fortschritte in Technik und Wissenschaft. Charakteristisch an diesem Vorgang ist seine Latenz, d. h. er findet zunächst unbemerkt statt- Auf einer zweiten Stufe wird sie jedoch durch die Verwissenschaftlichung der Modernisierungsrisiken aufgelöst.
In der Industriegesellschaft bildete der Wohlstand die Legitimationsgrundlage für wissenschaftlich begründeten, technischen Fortschritt. Die Wissenschaften der Risikogesellschaft beschäftigen sich zusätzlich mit den Folgen ihrer eigenen Aktivitäten und Ergebnisse. So sah Becks Prognose zum damaligen Zeitpunkt aus und in dieser Reflexivität der Wissenschaften erkennt er den eigentlichen Übergang in eine neue Gesellschaftsform:
„Die Konstellationen der Risikogesellschaft werden erzeugt, weil im Denken und Handeln der Menschen und Institutionen die Selbstverständlichkeiten der Industriegesellschaft (der Fortschrittskonsens, die Abstraktion von ökologischen Folgen und Gefahren, der Kontrolloptimismus) dominieren.“
(Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen, 1993).
Beck definiert Risiken als „Modernisierungsprodukt von verhinderungswertem Überfluss.“ Sie sind nicht naturgegeben, sondern entstehen erst im Zuge der Modernisierung und deren Vervielfältigungscharakteristik, stets im Streben nach Reichtum und im Sinne einer „positiven Aneignungslogik“, wie es Beck nennt. Zudem verursachen sie zahlreiche gesellschaftliche Konflikte, die vor allem aus der umgekehrten Proportionalität von Risiko und Reichtum resultieren: Die ärmsten und schwächsten Akteure der Industriegesellschaft hatten das höchste (Lebens-)Risiko zu tragen.
Eine Risikogesellschaft kann sich in erster Linie überhaupt erst entwickeln weil deren Mitglieder die Illusion vom Segensreichtum technisch-wissenschaftlichen Fortschritts nicht aufgeben wollen. Manches reguliert sich bekanntlich von selbst und so bietet die Risikogesellschaft früher oder später ausgleichende Gerechtigkeit: Wir werden alle irgendwann von den Risiken der Modernisierung heimgesucht (Feinstaub, Elektrosmog, Lebensmittelskandale, radioaktive Strahlung, usw.). Umweltprobleme sind ein globales Phänomen, jenseits sozialer Schranken. Waren in der Industriegesellschaft noch Verteilungskämpfe zentrales Thema, fordert die Risikogesellschaft nun Sicherheit und Risikoreduktion.
Risiken zeichnen sich dadurch aus, dass sie nichts Reales haben. Es geht um Ereignisse, die möglicherweise stattfinden. Sicher ist das nicht, deshalb lassen sie sich leicht aus dem Bewusstsein verdrängen:
„In der Risikogesellschaft verliert die Vergangenheit die Determinationskraft für die Gegenwart. An ihre Stelle tritt die
Zukunft, damit aber etwas Nichtexistentes, Konstruiertes, Fiktives als Ursache gegenwärtigen Erlebens und Handelns.“
(Ulrich Beck:
Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986)
Ist das befürchtete Ereignis eingetreten, können wir versuchen, die Folgen einzudämmen. Gelingt uns dies nicht, besteht noch die Möglichkeit, das Problem nicht zum Thema zu machen, es nicht in die Öffentlichkeit zu tragen, es zu ignorieren.
Sind Modernisierungsrisiken latent, können wir sie weder erkennen, noch begrifflich konkretisieren. Um dies zu ändern, sind wir auf die Wissenschaften angewiesen. Bei ihnen liegt die Macht zu entscheiden, ob ein Risiko vorliegt oder nicht und wen es persönlich betrifft oder betroffen machen muss. Erst das Wissen darum und die Art und Weise wie dieses Wissen verbalisiert und kommuniziert wird, erzeugt das Risiko im Bewusstsein und somit Betroffenheit.
Wir sind dabei nicht nur auf die Wissenschaften angewiesen, sondern auch auf die mediale Verbreitung wissenschaftlicher Arbeitsergebnisse durch Medien. Es ist dabei durchaus möglich, dass Menschen, die besonders stark von einem Risiko betroffen sind, gar kein Bewusstsein davon haben, weil ihnen das Wissen fehlt. Wessen Existenz unmittelbar bedroht ist, wer gegenwärtig um sein Überleben kämpft, für den sind zukünftige Risiken nicht relevant. Umgekehrt werden Menschen zu Risikoexperten, obwohl es sie nicht unmittelbar betrifft und sie auch direkt keine Einflussmöglichkeit haben.
Wissenschaftliche Forschungsergebnisse werden in der Regel auch umgesetzt. Vor allem in der Industrie ist das so und hier unterliegen sie der kommerziellen Nutzung. Anschließend brauchen wir die Forschung, um Risiken der Ergebnisanwendung zu beseitigen. Ob es ein Risiko überhaupt gibt, ist dabei abhängig von wirtschaftlichen Interessen bestimmter Akteure:
„Die Produktion von Risiken und ihre Verkennung hat also ihren ersten Grund in einer ökonomischen Einäugigkeit der
naturwissenschaftlich-technischen Rationalität. Deren Blick ist auf die Produktivitätsvorteile gerichtet. Sie ist damit zugleich mit einer systematischen Risikoblindheit geschlagen.“
(Ulrich Beck: Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986)
Dadurch entstehen immer neue Risiken und folglich eine Reflexivität der Wissenschaft. Das heißt, die Risikobewältigung fällt immer wieder auf die Wissenschaft
zurück, obwohl sie kaum Einfluss darauf hat, wie und durch wen ihre Forschungsergebnisse letztlich genutzt werden.
In den Wissenschaften ist vor allem der hohe Differenzierungs- und Spezialisierungsgrad problematisch. Die Heterogenität der Forschungsergebnisse bietet viele
verschiedene Varianten der Interpretation. Zudem sind Risiken niemals isoliert zu betrachten, sondern ihre Komplexität kann nur
im Zusammenhang erkannt und bewertet werden. Das führt zu einer Unüberschaubarkeit für Akteure anderer Teilsysteme.
Das Streben nach Wachstum und Reichtum in neoliberalen Wirtschaftssystemen beschränkt das Eingreifen des Staates in wissenschaftliche und ökonomische Prozesse. Die moderne Gesellschaft hat kein Steuerungszentrum, sagt Beck. Deshalb vermittle der Staat dem Einzelnen „Entwicklungsrichtung und Ergebnis des technischen Wandels als Ausdruck unausweichlicher technisch-ökonomischer Sachzwänge.“
Diese „Sachzwänge“ rechtfertigen wiederum die Handlungen einzelner Akteure und dynamisieren die Entwicklung der Risikogesellschaft:
„Die Entscheidungen, die die Gesellschaft verändern, haben keinen Ort, an dem sie hervortreten können, werden sprachlos und
anonymisiert. In der Wirtschaft werden sie in Investitionsentscheidungen eingebunden, die das gesellschaftsverändernde Potential in die ungesehene Nebenfolge abdrängen. Die empirisch-analytischen
Wissenschaften, die die Neuerungen vordenken, bleiben in ihrem Selbstverständnis und ihrer institutionellen Einbindung von den technischen Folgen und den Folgen der Folgen, die diese haben,
abgeschnitten.“(Ulrich Beck: Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986)
Politische Entscheidungen dienen schließlich nur noch dazu, Handlungen anderer Akteure zu legitimieren. Letztlich ist niemand wirklich verantwortlich, weil unterschiedliche Modernisierungsrisiken von verschiedenen Teilsystemen erzeugt werden und alle zur gleichen Zeit zuständig sind. „Fortschritt ist die in die Unzuständigkeit hineininstitutionalisierte Gesellschaftsveränderung“, sagt Beck. Alle agieren nur innerhalb ihres ausdifferenzierten Teilsystems.
Die einzelnen Akteure der Risikogesellschaft müssen für Modernisierungsrisiken zunehmend sensibilisiert sein, wenn sie handlungsfähig bleiben wollen. Sie müssen wissen, dass ihre Ursache in den jeweiligen Teilsystemen liegt. Individualisierungstendenzen führen laut Beck dazu, dass jeder auf sich selbst bezogen und zurückgeworfen ist und dass sich jeder hauptsächlich der Planung des eigenen Lebenslaufs widmet. Er sieht sie als Nebenprodukt des reflexiven Charakters der Risikogesellschaft und definiert sie als Abspaltung von sozialen Gefügen, wie sie in der Industriegesellschaft üblich waren. Damit meint er soziale Klassen, familiäre Traditionen, geschlechtsspezifische Kategorien. Das führt u. a. dazu, dass sich Biographien von Männern und Frauen schwerer synchronisieren lassen als das in der Industriegesellschaft der Fall war. Flexible Lebensführung ist mit dauerhafter Bindung kaum vereinbar. Bemerkenswert dabei ist, dass aber gerade die Industriegesellschaft dieser Tendenz den Weg bereitet hat:
„Die freigesetzten Individuen werden arbeitsmarktabhängig und damit bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen, von Verkehrsplanungen, Konsumangeboten, Möglichkeiten und Moden in der medizinischen, psychologischen und pädagogischen Beratung und Betreuung.“
(Ulrich Beck: Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986)
Laut Beck liegt aber dennoch der Schlüssel zum Ausstieg aus der Risikogesellschaft eben genau im Bezug des Individuums auf sich selbst und in dessen vollständiger Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben. Das soll jedoch nicht ausschließlich innerhalb des eigenen Teilsystems geschehen, sondern systemübergreifend und außerhalb der Institutionen. Individualisierung schafft und erweitert somit Handlungsspielräume und dem Individuum stehen viele Wege offen. Es muss sich permanent für oder gegen etwas entscheiden. Dabei ist es stets gezwungen, autonom zu sein, wenn alle übrigen Teilsysteme nicht zuständig sind.
Im Sinne Sartres sagt Beck:
„Der Mensch wird zur Wahl seiner Möglichkeiten, zum homo optionis. Leben, Tod, Geschlecht, Körperlichkeit, Identität, Ehe, Elternschaft,
soziale Bindungen – alles wird sozusagen bis ins Kleingedruckte hinein entscheidbar, muß, einmal zu Optionen zerschellt, entschieden werden.“
(Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften,
1994)
Wer Abstand zum Teilsystem gewinnt, kann sich den Sozialrationalitäten widmen. Das gelingt noch besser, wenn man es schafft, in Kontexten zu denken und sich sozial zu entdifferenzieren. Indem die Politik ihre Verantwortlichkeit und damit auch einen Teil ihrer Macht teilweise auf den individualisierten, politisierten Akteur überträgt, kann dieses Ziel erreicht werden. Das bedeutet auch, dass sich die Politik in manchen Teilbereichen damit abfinden muss, handlungsunfähig zu sein und sie sollte das auch öffentlich zuzugeben. Nur so lässt sich institutionell organisierte und latente Unverantwortlichkeit überwinden. Dazu bedarf es der Unabhängigkeit der Justiz, leistungsfähigen Medien mit hoher Reichweite und eines funktionierenden Bildungssystems, das zu politisch verantwortungsbewusstem Handeln befähigt:
„Die Bewältigung der Risiken zwingt zum Überblick, zur Zusammenarbeit über alle sorgfältig etablierten und gepflegten Grenzen hinweg. … Insofern werden in der Risikogesellschaft die Entdifferenzierung der Subsysteme und Funktionsbereiche, die Neuvernetzung der Spezialisten, die risikoeindämmende Vereinigung der Arbeit das systemtheoretische und –organisatorische Kardinalproblem.“
(Ulrich Beck: Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986)
Die Wissenschaften besitzen keine Mystik. Expertenwissen muss keine Geheimnisse verbergen, sondern darf öffentlich kommuniziert werden. Die Definition von Risiken muss über den wissenschaftlichen Weg geschehen und das geht immer mit einem erheblichen Konfliktpotential zwischen den einzelnen Disziplinen einher. Deshalb und weil man sich vor der Auseinandersetzung mit zum Teil selbstverursachten Problemen scheut, gibt es eine gewisse Zurückhaltung des Wissenschaftsbetriebes, sich dieser Verantwortung zu stellen. An dieser Stelle ist jeder politisierte Einzelakteur und somit die gesamte Gesellschaft gefragt. Alle müssen wachsam sein und riskante Sachverhalte konsequent an die Öffentlichkeit bringen. Gelingt dies nicht, dann geraten Fragestellungen in nichtwissenschaftliche Sphären, die eigentlich einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung bedürften. Ebenso unwissenschaftlich fallen dann oftmals die Antworten aus.
Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit müssen die Wissenschaft dazu auffordern, sich den Risiken empirisch zu stellen, den Grad der Differenzierung bei den Einzeldisziplinen zu minimieren und verstärkt kooperativ zusammenzuarbeiten. Dabei muss es gleichzeitig aber auch möglich sein, ungestraft Fehler zuzugeben, Forschungsergebnisse und darauf aufbauende Maßnahmen notfalls rückgängig zu machen und seine Meinung zu ändern.
Voraussetzung für diese Maßnahmen ist wiederum eine moderne, demokratische Gesellschaft:
„Reflexive Modernisierung, die auf die Bedingungen hochentwickelter Demokratie und durchgesetzter Verwissenschaftlichung trifft, führt
zu charakteristischen Entgrenzungen von Wissenschaft und Politik. Erkenntnis- und Veränderungsmonopole werden ausdifferenziert, wandern aus den dafür vorgesehenen Orten ab und werden in einem
bestimmten, veränderten Sinne allgemeiner verfügbar.“
(Ulrich
Beck: Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986)
© Katja Tropoja
© Katja Tropoja
Mit seiner Gegenwartsdiagnose der modernen Gesellschaft „Critique of Modernity“ von 1992 erforscht und beschreibt der französische Soziologe Alain Touraine wie Rationalisierungs- und Subjektivierungsprozesse und deren kollektive Akteure zur Entwicklung der modernen Gesellschaft beitragen und wohin sich diese bewegen könnte. Dabei ist sein Blick ein hoffnungsvoller, denn er glaubt an ein Gleichgewicht von Rationalisierung und Subjektivierung.
Die „Rationalisierung der Weltbeherrschung“, wie Max Weber schon 1920 dieses mehrdimensionale Kennzeichen der Moderne nannte, beschreibt eine kanonisierte Sicht der Moderne. Es geht zunächst um Zweckrationalität im herkömmlichen Sinn, d. h. um den möglichst effizienten Einsatz von Ressourcen, um ein vordefiniertes Ziel zu erreichen. Darüber hinaus fördern Verallgemeinerungen eine theoretische Rationalität, wenn es um die Herstellung kausaler Zusammenhänge geht. Immer wieder neues Hinterfragen kostet Zeit und Energie und wird als ineffizient erachtet. In eine ähnliche Richtung führt die formale Rationalität, die auf eine universale Anwendung von Regeln und Normen zielt. Für die vierte Form, die Wertrationalität, ist der zuvor eindeutig definierte Gegenstand des Wollens das Maß, an dem sich alles Streben und Handeln orientiert. Sie sorgt dafür, dass sich unterschiedliche Sphären von Wertvorstellungen und somit sämtliche Teilsysteme, die in der Moderne zu finden sind, ausdifferenzieren können. Gemeint sind damit Ökonomie, Rechtswesen, politisches Leben und Wissenschaft ebenso wie Religiosität, Liebe, Kunst, usw.
In der Moderne gibt es stets eine Wechselwirkung dieser Teilbereiche und somit auch Konflikte zwischen ihnen. Deshalb muss jeder Bereich seine eigenen Regeln und
Normen entwickeln, um sich zu behaupten. Alle Formen der Rationalität bedingen sich damit gegenseitig und sind aufeinander
angewiesen. Das erfordert eine Kultivierung der Zweckrationalität, sowie der theoretischen und formalen Rationalität und beflügelt diese zugleich.
Touraine ergänzte Webers Ansatz um den Aspekt der Subjektivierung. Aus seiner Sicht stehen beide Prinzipien gleichberechtigt nebeneinander, sie fördern und fordern sich gegenseitig: Das Subjekt rechtfertigt Rationalisierungsschritte und die damit verbundenen Auswirkungen mit dem unverzichtbaren Streben nach Individualität und Selbstverwirklichung, die durch wissenschaftlichen Fortschritt erst ermöglicht werden. Rationalisierung stellt sich als besondere Eigenschaft von Subjektivierungsprozessen dar: Dinge werden hinterfragt, wissenschaftlich analysiert, auf ihre Effizienz und Normierungsfähigkeit hin geprüft, alles im Sinne und zum Wohl des selbstbestimmten Individuums.
In der Frühmoderne löste das Bewusstsein der eigenen Selbstwirksamkeit die vor allem religiös begründete Begrenztheit des menschlichen Daseins ab, vor allem in Bezug auf wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Der Mensch als Gestalter hat der Moderne Eigendynamik verliehen. Nutzenorientierung und der Wunsch nach Perfektionierung sind die vorrangigen Leitlinien in der modernen Gesellschaft. Wer sich damit konform verhält, ist im Bewusstsein der eigenen Subjektivität individueller, besonderer, einzigartiger und selbstbestimmter Träger dieser modernen gesellschaftlichen Weltordnung.
Subjektivität und Rationalisierung können sich gegenseitig nicht negieren und keines kann auf das andere verzichten, auch wenn die Rationalität seit der Frühmoderne gegen das Subjekt arbeitet und versucht, die Oberhand zu gewinnen.
Rationalisierung verpflichtet uns zur Perfektionierung in allen Lebensbereichen. Sie fordert uns auf, über uns hinaus zu wachsen, unsere Leistung zu steigern, mehr Reichtum zu erlangen, mehr Macht auszuüben, erstaunlichere Forschungsergebnisse zu erzielen, tiefere Liebe zu empfinden, ein sensationelleres Kunstwerk zu erschaffen, usw. Es hört nie auf. Begrenzung finden wir nicht in einem göttlichen Willen, sondern in unserer persönlichen Vorstellungskraft.
Der Fortschritt sucht nach einer Legitimitätsgrundlage und findet sie in der menschlichen Subjektivität, im Drang nach selbstbestimmter Individualität. Rationalisierung bewirkt, dass der Fortschritt seine Daseinsberechtigung selbst begründen kann, das Subjekt ist dafür nicht mehr notwendig. Schlimmer noch: Sie wird nicht nur verworfen, sondern zusätzlich der Rationalität auch noch unterworfen. Alles unter dem Deckmantel vorgegebener, „vernünftiger“ Zweckimperative. Wer sich dem nicht beugt muss mit Stigmatisierung und Diskriminierung rechnen. Darin sieht Touraine die eigentliche „crisis of modernity“, ein Prozess, der sich in drei Etappen vollzieht: Nachdem sie die Aufgabe von Subjektivität verursacht hat, gerät gesellschaftliche Rationalisierung in ein Stadium der Unfähigkeit, sinngebende Ziele vorzugeben. Sie ist nicht einmal mehr in der Lage, diese überhaupt zu erlauben. Darauf folgt eine Radikalisierung der kritischen Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen der Moderne. Vor allem verurteilen Modernisierungsgegner den betrügerischen Charakter und letztlich das Scheitern des Fortschritts, der nicht hält, was er versprochen hat. Was übrig bleibt ist ein Zwang zur Konformität, der durch drohende Sanktionen abgesichert ist. Die Autonomie eines selbstbestimmten Individuums wird als zu vernachlässigende Komponente ausgeklammert und zur Nebensache erklärt. Der hohe Grad an Ausdifferenziertheit und Rationalisierung gesellschaftlicher Sphären gefährdet die Selbstständigkeit des Subjektes.
Für einige Zeit koindizierten Rationalisierung und Subjektivierung im Individualismus des Bürgertums. Bemerkenswert ist auch,
dass vor allem die religiöse Reaktion auf die Aufklärung einen entscheidenden Schub für Subjektivierungsprozesse bedeutet hat: Der Mensch ist nicht materialistisch auf seinen Körper reduzierbar,
sondern besteht aus Körper, Geist und Seele. Die Religion dient so als Verankerung eines nicht Rationalisierbaren, das den Wesenskern des Menschen ausmacht und somit als Schutzzone für
Subjektivität.
Touraine ist zuversichtlich und setzt seine Hoffnung auf soziale Bewegungen, deren vorrangiges Ziel die Selbstbestimmung ist. Durch Bündelung von Ressourcen und Bildung von Kooperationen sollen sie die individuelle Subjektivierung zum Leben erwecken – entweder durch Reform oder durch Revolution. Es ist der kollektive Widerstand gegen die Rationalisierung, in dem sich die individuelle Subjektivierung vollzieht.
Für Touraine ist Freiheit im Sinne von Selbstbestimmtheit eine notwendige Voraussetzung, weil sie sinnstiftende Bindungen an kulturelle Werte, Lebensstile und Gemeinschaften gegen teilsystemische Rationalisierungen verteidigt. Darüber hinaus hat sie die Aufgabe, das Subjekt an dessen Autonomie in Bezug auf diese Bindungen zu erinnern, damit es deren Imperativen widerstehen kann.
Das Subjekt spielt mittels seiner Freiheit dauerhaft Rationalität gegen tradierte Bindungen aus und umgekehrt. Es gewinnt genau dadurch in einer antagonistischen Kooperation mit moderner Rationalität seine Freiheit. Dies geschieht im Bewusstsein, dass beide grundsätzlich miteinander unvereinbar sind. Die Subjektivität ist dabei stets das gefährdetere der beiden Prinzipien und braucht deshalb Unterstützung durch institutionalisierte Diskussionsforen und Dialogformen, damit sie auf die Mobilisierung vormoderner Kooperationspartner verzichten kann. Sonst ist die Versuchung groß, jede Form der Rationalisierung sofort zu verwerfen.
© Katja Tropoja
© Katja Tropoja
Hauptforschungsbereich des französischen Sozialwissenschaftlers Bruno Latour ist die Wissenschafts- und Technikforschung, unter Einbeziehung gesellschaftstheoretischer Aspekte. Mit einem seiner Hauptwerke „Nous n’avons jamais été modernes“ (Wir sind nie modern gewesen) von 1991 stellte er die Produkte naturwissenschaftlicher Forschung in den Kontext ihrer soziokulturellen Entstehung. Ausgangspunkt war die These, dass alles, was wir bisher an Erkenntnissen über die natürliche Beschaffenheit von Materiellem gewonnen haben, im Rahmen eines sozialen Gefüges kognitiv von uns konstruiert ist. Darüber hinaus haben Zielsetzung und Strategie der forschend Tätigen erheblichen Einfluss darauf, welches Wissen publiziert wird. Regelmäßig findet „Enrollment“ statt, d. h. unterschiedliche Interessengruppen bilden Allianzen, um bestimmte Forschungsziele zu propagieren und zu etablieren. Dazu gehören vor allem die Medien, sowie die Justiz mit ihrem Streben nach rechtlicher Normierung, so zum Beispiel in der Genforschung.
Im nächsten Schritt untersuchte Latour, in wie fern das gesellschaftsstrukturelle Einwirken auf Naturwissenschaft und Technik die moderne Gesellschaft beeinflusst. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den Auswirkungen dieser als objektiv dargestellten Ergebnisse von Wissenschaftsproduktion, bei denen es sich um konstruierte Artefakte handelt, auf unterschiedliche Teile der Gesellschaft.
Latour erläutert das beispielhaft an einem Zeitungsartikel, der das Loch in der Ozonschicht zum Gegenstand hat: