Die Moderne als Co-Produktion von Rationalisierung und Subjektivierung

© Katja Tropoja


Mit seiner Gegenwartsdiagnose der modernen Gesellschaft „Critique of Modernity“ von 1992 erforscht und beschreibt der französische Soziologe Alain Touraine wie Rationalisierungs- und Subjektivierungsprozesse und deren kollektive Akteure zur Entwicklung der modernen Gesellschaft beitragen und wohin  sich diese bewegen könnte. Dabei ist sein Blick ein hoffnungsvoller, denn er glaubt an ein Gleichgewicht von Rationalisierung und Subjektivierung.

Die Moderne als gesellschaftlicher Rationalisierungsvorgang

Die „Rationalisierung der Weltbeherrschung“, wie Max Weber schon 1920 dieses mehrdimensionale Kennzeichen der Moderne nannte, beschreibt eine kanonisierte Sicht der Moderne. Es geht zunächst um Zweckrationalität im herkömmlichen Sinn, d. h. um den möglichst effizienten Einsatz von Ressourcen, um ein vordefiniertes Ziel zu erreichen. Darüber hinaus fördern Verallgemeinerungen eine theoretische Rationalität, wenn es um die Herstellung kausaler Zusammenhänge geht. Immer wieder neues Hinterfragen kostet Zeit und Energie und wird als ineffizient erachtet. In eine ähnliche Richtung führt die formale Rationalität, die auf eine universale Anwendung von Regeln und Normen zielt. Für die vierte Form, die Wertrationalität, ist der zuvor eindeutig definierte Gegenstand des Wollens das Maß, an dem sich alles Streben und Handeln orientiert. Sie sorgt dafür, dass sich unterschiedliche Sphären von Wertvorstellungen und somit sämtliche Teilsysteme, die in der Moderne zu finden sind, ausdifferenzieren können. Gemeint sind damit Ökonomie, Rechtswesen, politisches Leben und Wissenschaft ebenso wie Religiosität, Liebe, Kunst, usw.

 

In der Moderne gibt es stets eine Wechselwirkung dieser Teilbereiche und somit auch Konflikte zwischen ihnen. Deshalb muss jeder Bereich seine eigenen Regeln und Normen entwickeln, um sich zu behaupten. Alle Formen der Rationalität bedingen sich damit gegenseitig und sind aufeinander angewiesen. Das erfordert eine Kultivierung der Zweckrationalität, sowie der theoretischen und formalen Rationalität und beflügelt diese zugleich.

Subjektivität und Rationalität als Produzenten der Moderne

Touraine ergänzte Webers Ansatz um den Aspekt der Subjektivierung. Aus seiner Sicht stehen beide Prinzipien gleichberechtigt nebeneinander, sie fördern und fordern sich gegenseitig: Das Subjekt rechtfertigt Rationalisierungsschritte und die damit verbundenen Auswirkungen mit dem unverzichtbaren Streben nach Individualität und Selbstverwirklichung, die durch wissenschaftlichen Fortschritt erst ermöglicht werden. Rationalisierung stellt sich als besondere Eigenschaft von Subjektivierungsprozessen dar: Dinge werden hinterfragt, wissenschaftlich analysiert, auf ihre Effizienz und Normierungsfähigkeit hin geprüft, alles im Sinne und zum Wohl des selbstbestimmten Individuums.

 

In der Frühmoderne löste das Bewusstsein der eigenen Selbstwirksamkeit die vor allem religiös begründete Begrenztheit des menschlichen Daseins ab, vor allem in Bezug auf wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Der Mensch als Gestalter hat der Moderne Eigendynamik verliehen. Nutzenorientierung und der Wunsch nach Perfektionierung sind die vorrangigen Leitlinien in der modernen Gesellschaft. Wer sich damit konform verhält, ist im Bewusstsein der eigenen Subjektivität individueller, besonderer, einzigartiger und selbstbestimmter Träger dieser modernen gesellschaftlichen Weltordnung.

 

Subjektivität und Rationalisierung können sich gegenseitig nicht negieren und keines kann auf das andere verzichten, auch wenn die Rationalität seit der Frühmoderne gegen das Subjekt arbeitet und versucht, die Oberhand zu gewinnen.

Siegeszug der Rationalisierung auf Kosten der Subjektivierung

Rationalisierung verpflichtet uns zur Perfektionierung in allen Lebensbereichen. Sie fordert uns auf, über uns hinaus zu wachsen, unsere Leistung zu steigern, mehr Reichtum zu erlangen, mehr Macht auszuüben, erstaunlichere Forschungsergebnisse zu erzielen, tiefere Liebe zu empfinden, ein sensationelleres Kunstwerk zu erschaffen, usw. Es hört nie auf. Begrenzung finden wir nicht in einem göttlichen Willen, sondern in unserer persönlichen Vorstellungskraft.

 

Der Fortschritt sucht nach einer Legitimitätsgrundlage und findet sie in der menschlichen Subjektivität, im Drang nach selbstbestimmter Individualität. Rationalisierung bewirkt, dass der Fortschritt seine Daseinsberechtigung selbst begründen kann, das Subjekt ist dafür nicht mehr notwendig. Schlimmer noch: Sie wird nicht nur verworfen, sondern zusätzlich der Rationalität auch noch unterworfen. Alles unter dem Deckmantel vorgegebener, „vernünftiger“ Zweckimperative. Wer sich dem nicht beugt muss mit Stigmatisierung und Diskriminierung rechnen. Darin sieht Touraine die eigentliche „crisis of modernity“, ein Prozess, der sich in drei Etappen vollzieht: Nachdem sie die Aufgabe von Subjektivität verursacht hat, gerät gesellschaftliche Rationalisierung in ein Stadium der Unfähigkeit, sinngebende Ziele vorzugeben. Sie ist nicht einmal mehr in der Lage, diese überhaupt zu erlauben. Darauf folgt eine Radikalisierung der kritischen Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen der Moderne. Vor allem verurteilen Modernisierungsgegner den betrügerischen Charakter und letztlich das Scheitern des Fortschritts, der nicht hält, was er versprochen hat. Was übrig bleibt ist ein Zwang zur Konformität, der durch drohende Sanktionen abgesichert ist. Die Autonomie eines selbstbestimmten Individuums wird als zu vernachlässigende Komponente ausgeklammert und zur Nebensache erklärt. Der hohe Grad an Ausdifferenziertheit und Rationalisierung gesellschaftlicher Sphären gefährdet die Selbstständigkeit des Subjektes.

 

Für einige Zeit koindizierten Rationalisierung und Subjektivierung im Individualismus des Bürgertums. Bemerkenswert ist auch, dass vor allem die religiöse Reaktion auf die Aufklärung einen entscheidenden Schub für Subjektivierungsprozesse bedeutet hat: Der Mensch ist nicht materialistisch auf seinen Körper reduzierbar, sondern besteht aus Körper, Geist und Seele. Die Religion dient so als Verankerung eines nicht Rationalisierbaren, das den Wesenskern des Menschen ausmacht und somit als Schutzzone für Subjektivität.

Hoffung auf „full modernity“ in Freiheit

Touraine ist zuversichtlich und setzt seine Hoffnung auf soziale Bewegungen, deren vorrangiges Ziel die Selbstbestimmung ist. Durch Bündelung von Ressourcen und Bildung von Kooperationen sollen sie die individuelle Subjektivierung zum Leben erwecken – entweder durch Reform oder durch Revolution. Es ist der kollektive Widerstand gegen die Rationalisierung, in dem  sich die individuelle Subjektivierung vollzieht.

 

Für Touraine ist Freiheit im Sinne von Selbstbestimmtheit eine notwendige Voraussetzung, weil sie sinnstiftende Bindungen an kulturelle Werte, Lebensstile und Gemeinschaften gegen teilsystemische Rationalisierungen verteidigt. Darüber hinaus hat sie die Aufgabe, das Subjekt an dessen Autonomie in Bezug auf diese Bindungen zu erinnern, damit es deren Imperativen widerstehen kann.

 

Das Subjekt spielt mittels seiner Freiheit dauerhaft Rationalität gegen tradierte Bindungen aus und umgekehrt. Es gewinnt genau dadurch in einer antagonistischen Kooperation mit moderner Rationalität seine Freiheit. Dies geschieht im Bewusstsein, dass beide grundsätzlich miteinander unvereinbar sind. Die Subjektivität ist dabei stets das gefährdetere der beiden Prinzipien und braucht deshalb Unterstützung durch institutionalisierte Diskussionsforen und Dialogformen, damit sie auf die Mobilisierung vormoderner Kooperationspartner verzichten kann. Sonst ist die Versuchung groß, jede Form der Rationalisierung sofort zu verwerfen.

© Katja Tropoja

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