Die Einheit der Gesellschaft entsteht durch funktionale Differenzierung ihrer Teilsysteme

© Katja Tropoja


Niklas Luhmann, einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, lieferte eine umfangreiche systemtheoretische Gesamtschau sozialer Wirklichkeit. Er analysierte und erforschte vor allem die sozialen Erscheinungsformen der modernen Gesellschaft. „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ von 1997 ist das Hauptwerk seiner Gesellschaftstheorie.

 

Die moderne Gesellschaft ist funktional differenziert

Die moderne Gesellschaft ist eine Kombination verschiedener Teilbereiche. Dazu gehören zum Beispiel die Politik, die Wissenschaft, die Kunst, die Religion, die Wirtschaft, usw. Alle unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Funktionen und Handlungsweisen voneinander, aber alle haben den gleichen Stellenwert. Alles, was sich gesellschaftlich ereignet, steht in einem mehrdimensionalen Kontext dieser Vielzahl von Teilsystemen. Auf jedes einzelne sind wir angewiesen, denn jedes trägt dazu bei, dass die Gesellschaft sich reproduzieren kann. Deshalb gibt es nicht nur eine soziale Wirklichkeit, sondern so viele wie es teilsystemische Sichtweisen gibt. Das meint Luhmann mit gesellschaftlicher Reproduktion. Die Einheit der Gesellschaft ist nichts anderes als diese Differenz der Funktionssysteme; sie ist nichts anderes als deren wechselseitige Autonomie und Unsubstituierbarkeit. Die Leistung eines wegfallenden Teilsystems kann nicht durch die Mehrleistung eines anderen ersetzt werden, denn:

 

„In funktional differenzierten Gesellschaften gilt (…): das System mit der höchsten Versagensquote dominiert, weil der Ausfall von spezifischen Funktionsbedingungen nirgendwo kompensiert werden kann und überall zu gravierenden Anpassungen zwingt.“

 

(Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997)


Gesellschaftliche Teilsysteme sind Geschlossen und Selbstbezogen

Ein gesellschaftliches Ereignis ist erst dann von Bedeutung, wenn es kommuniziert wird. Erst dann treten die Teilsysteme in Beziehung zueinander und kooperieren miteinander, bleiben aber immer klar voneinander abgegrenzt. Sie finden keine gemeinsame Sprache und können deshalb die Intention der anderen Bereiche nicht nachvollziehen. Dennoch sind sie für systemfremde Einflüsse zumindest durchlässig. Dadurch entsteht, was Luhmann strukturelle Kopplungen nennt. Diese sind wiederum eng miteinander vernetzt, was systemintegrative Prozesse überhaupt erst ermöglicht und garantiert. Im Idealfall verhindern diese Kopplungen, dass die Aktivitäten eines gesellschaftlichen Teilsystems in einem anderen negative Wirkung entfalten können.

 

 

 

Sinnentleertheit führt zu inflationärem Anspruchsverhalten

Luhmann geht nicht von einer (Lebens-)Sinnentleerung des modernen Menschen aus, sondern stellt vielmehr fest, dass gar keine Leere entstehen kann. Jedes Vakuum wird durch immer neue Erwartungen an die Teilsysteme ersetzt. Der Mensch als Teil der modernen Gesellschaft beansprucht Leistungen dieser Systeme, zu denen  sie sich selbst verpflichtet haben. Er setzt deshalb deren Bringschuld voraus. Luhmann bezeichnet diese Entwicklung als Anspruchsindividualismus, der in Anspruchsinflationen münden kann.

 

 

 

Er sieht einen Zusammenhang zwischen dem, was einerseits der moderne Individualist von gesellschaftlichen Teilsystemen erwartet und dem, was diese andererseits bieten und  versprechen:

 

 

 

„Funktionsautonomie und Anspruch verzahnen sich ineinander, begründen sich wechselseitig, steigern sich im Bezug aufeinander und gehen dabei eine Symbiose ein, der gegenüber es keine rationalen Kriterien des richtigen Maßes mehr gibt.“

 

(Niklas Luhmann: Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum. 1987).

 

Die Teilsysteme setzen global auf Wachstumssteigerung, um Verteilungskonflikte zu verhindern. Vor allem in den Bereichen Finanzen und Bildung sind die Grenzen dieses Vorgehens schnell erreicht. Besonders problematisch wird es, wenn behauptet wird, dass Wachstum gar keine Grenzen kennt.

 

 

 

Fehlende Teilhabe löst eine Kettenreaktion aus

 

Die Exklusivität eines Teilsystems bedeutet in der Regel den Ausschluss bestimmter Personengruppen aus weiteren Teilsystemen, da diese auf vielfache Weise voneinander abhängen. Wer keinen Zugang zu Bildung hat, hat keinen Zugang zum Arbeits- und Kapitalmarkt, zum Gesundheits- und Freizeitmarkt, zu politischer Teilnahme, usw. Oft findet dann auch keine räumliche Inklusion statt, was gut an der Ghettobildung in Großstädten abzulesen ist. Teile der Gesellschaft werden damit aus sämtlichen Systemen geworfen. Sie sind nicht mehr im Spiel.

 

 

 

Luhmanns Lösungsvorschläge

  1. Den politisch Verantwortlichen rät Luhmann zu Restriktionen. Seiner Meinung nach solle sich die Politik darauf beschränken, bestehende gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu schlichten und nur über das zu entscheiden, was gesamtgesellschaftlich tatsächlich notwendig ist. Dabei sei auf Verbindlichkeit und Verlässlichkeit zu achten. Jede Form der Lenkung in eine bestimmte Richtung sei zu vermeiden.
  2. Darüber hinaus könnte ein völlig neuartiges gesellschaftliches Teilsystem kreiert werden, das zum einen die Inklusion aller Mitglieder einer modernen Gesellschaft gewährleistet und zusätzlich inflationäre Tendenzen in Bezug auf das Anspruchsverhalten und die von den anderen  Teilsystemen in Aussicht gestellten Exklusivleistungen korrigiert. Als binären Code dieses innovativen Teilsystems schlägt Luhmann die Begriffe "Nachhaltigkeit“ und „mangelnde Nachhaltigkeit“ vor.

Ein Jahr nach dem Erscheinen seines gesellschaftstheoretischen Hauptwerkes ist Niklas Luhmann verstorben. Seitdem sind zwanzig Jahre vergangen. Eine Umsetzung seiner Lösungsansätze ist nicht erkennbar.

© Katja Tropoja

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