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Weltflucht oder Spiel des Lebens

Image by Sarah Lötscher from Pixabay
Image by Sarah Lötscher from Pixabay

Kulturelle Rahmenbedingungen bestimmen sowohl Form und Intensität von Stressbewältigung, als auch deren Anerkennung oder Nichtakzeptanz. Geht es um Eskapismus, dann überwiegen häufig die negativen Aspekte: Von Ignoranz und von Sucht nach Vergnügung ist die Rede, von Verweigerung und Flucht vor den unbequemen Anforderungen des Alltags. Aus psychosozialer Perspektive kommt schnell der Begriff Neurose ins Spiel, wo es doch lediglich um den natürlichen Wunsch nach angenehmen Empfindungen und Erlebnissen geht, den wir mit allen Lebewesen teilen.

 

Die gute Nachricht: Es gibt so viele Realitäten wie Menschen die Erde bevölkern und Flucht kann eine Welt mit einfacheren, übersichtlicheren (Spiel-)Regeln offenbaren, z. B. die Arbeitswelt und die Welt exzessiven Konsums. Menschen, die ein eskapistisches Verhalten an den Tag legen, fliehen vorsätzlich von einer (Pseudo-)Realität in die Welt einer anderen (Schein-)Realität. Das ist zunächst weder gut noch schlecht.

Eskapismus hat Tradition

Der Wunsch, unglücklichen Lebensbedingungen zu entfliehen, ist nicht neu:
Als Gegenreaktion auf diese zunehmend bedrohlicher wirkende Welt, zogen sich  die Romantiker des frühen 19. Jahrhunderts in Fantasie- und Traumwelten und in die Subjektivität des inneren Seelenlebens zurück. Im Kontrast zur Realität sollte in Kunst und Literatur der Einzelne im Mittelpunkt stehen und seine Gefühle in den Vordergrund gerückt werden.

 

Mentale Flucht aus Diskriminierung, Armut, schwerer Fabrikarbeit, Bombenhagel und politischer Willkür hat  Menschen durch schwere Krisen hindurchgeführt und Gesellschaft aufrecht erhalten. Zeiten hoher Arbeitslosigkeit boten mehr Freizeit und somit Gelegenheit zu eskapistischer Aktivität und schon immer gab es Skeptiker und Kritiker. So hieß es mit Verbreitung des Fernsehens als Massenmedium bereits „das Fernsehen ist dazu da, sich abzuschalten“ – der Denkapparat Gehirn im Standby-Modus.

Nennenswert sind hier z. B. die Kulturkritik des Philosophen Günther Anders und die kommunikationswissenschaftlichen Studien der Sozialpsychologin Herta Herzog.

 

Im Vergleich zu früheren Epochen profitieren heute bestimmte Wirtschaftszweige zunehmend von eskapistischen Tendenzen, u. a. digitale Medien, die Lebensmittelindustrie, Pharmaunternehmen, die Fitnessbranche, etc.. Sie alle bedienen gewohnte Bedürfnisse, die zu unserem Lebensalltag gehören und auf die wir nicht vollständig verzichten können. Sie werden ihrem ursprünglichen Kontext entzogen und/oder treten in übersteigerter Form auf.

Beherzter Ausbruch oder Feigheit vor dem Feind

Erst der Frage, ob es es sich um einen mutigen Ausbruch aus Gefangenschaft oder die feige Flucht eines/einer Desertierenden handelt, fällt die Wertfreiheit des Fluchtkonzepts zum Opfer: Unfähig, unwillig, unglücklich und nach Ablenkung suchend - so seien Eskapist:innen, urteilen Vertreter der zweiten Kategorie.


Der irische Science-Fiction-Autor und Literaturwissenschaftler C.S. Lewis behauptete in seinem Essay „On Science Fiction“: „Die üblichen Feinde der Flucht sind Gefängniswärter:innen“ und in Maßen angewandter Eskapismus könne sowohl zur Auffrischung als auch zur Erweiterung der Vorstellungskraft dienen.

Kreativität ist Eskapismus, der zu Veränderung führt

Vor allem Kunst und Literatur wurden schon in der Romantik des 19. Jahrhunderts als Fluchthelferinnen identifiziert. Darüber hinaus und in erster Linie gehört zu ihrem Kompetenzprofil die Fähigkeit, einen Zwischenraum zwischen uns und der Wirklichkeit (unserer eigenen und allen übrigen Realitäten) zu schaffen. Kunst und Literatur sind dazu fähig, weil Fiktion und Utopie ihren Charakter kennzeichnen. Diese Distanz macht die Lage übersichtlicher, schenkt uns Urteilskraft, lässt uns Belanglosigkeit und Vergänglichkeit erkennen, konventionelle Lebensentwürfe hinterfragen und ermöglicht schließlich Veränderung. Die klassischen Künste schenken uns ästhetisch ansprechende, eskapistische Momente, deren Faszination u. a. darin besteht, dass sie uns ganz vereinnahmen können, sofern wir dies zulassen. Möglich ist aber auch die gegenläufige Tendenz, dass der Realismus klassischer Künste selbst als Bedrohung wahrgenommen wird.

Fantasie als höchste Form der Kunst

In seinem Vortrag aus dem Jahr 1939 sprach sich der Schriftsteller J.R.R. Tolkien entschieden für eine angemessene Wertschätzung des Eskapismus aus und stellte dabei eine Verbindung zum Märchen her, dessen wesentlichste Funktion die Flucht sei:

  • Das Fantasieren ist eine natürliche menschliche Tätigkeit, die der Vernunft nicht entgegensteht, sondern aus ihr hervorgeht;
  • Schöpferische Fantasie gründet im Anerkennen des Tatsächlichen, doch nicht in der Versklavung durch dasselbe;
  • Fantasie ist ein Menschenrecht.

Die schöpferische Begabung des menschlichen Geistes basiere auf der Sprache und dem Denken.

 

Weil es Adjektive gibt und weil wir in der Lage sind, einen Gegenstand zu benennen, könnten wir dessen Eigenschaften von ihm trennen und ihm jedes erdenkliche weitere Attribut zuweisen. So erschaffen wir Fantasien, die Zerstörtes wiederherstellen und Trost spenden.

 

Zur Fantasie gehört auch das Fremde, Wundersame und das Streben nach Verzauberung. Weil sie Dinge außerhalb unserer Primärwelt vorstelle, sei sie die höchste Form von Kunst und ein Schöpfungsverlangen, das nach gemeinsamem Reichtum strebe.

 

Eskapismus sei der kreative Ausdruck der Realität innerhalb einer sekundären (imaginativen) Welt:

„Wir schaffen nach unserem Maß und abgeschauten Muster, weil wir selber geschaffen sind und nicht nur geschaffen, sondern geschaffen nach dem Bild eines Schöpfers.“

Die Moderne sei letztlich der wahre Zufluchtsort, nämlich vor der Natur.

Wenn der Ernst in unser Leben tritt: Pflichten erfüllen und dem Lustprinzip folgen

Wie Tolkien, so sah bereits Sigmund Freud die Literatur in seinem Aufsatz „Der Dichter und das Phantasieren (1907)“– als eine Möglichkeit der fantastischen Erfüllung von Wünschen und Sehnsüchten, die die „wirkliche“ Welt nicht leisten kann:

 

„Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft, oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt. Es wäre dann unrecht, zu meinen, es nähme diese Welt nicht ernst; im Gegenteile, es nimmt sein Spiel sehr ernst, es verwendet große Affektbeträge darauf. Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern – Wirklichkeit.“

Dass wir erwachen sind, bzw. werden, merken wir u. a. daran, dass die Kluft zwischen Spiel und „Echtsein“ immer größer wird. Wenn sie ihr Maximum erreicht hat, spielt das Spiel eine völlig untergeordnete Rolle. Es verschwindet zum Teil für Jahrzehnte fast völlig aus unserem Leben. An seine Stelle treten die Herausforderungen der Realitäten und wir lernen den Ernst des Lebens kennen. Wir bemühen uns und das wird uns auch manchmal amtlich bescheinigt: „Er/sie hat sich bemüht... “ steht dann in Schul- und Arbeitszeugnissen.

Zum Glück können uns Lebensereignisse und -phasen derart disponieren, dass sich Spiel und Wirklichkeit wieder annähern, der Graben wird flacher und schließlich sehen wir das Leben als Spiel:

„Der Erwachsene kann sich darauf besinnen, mit welchem hohen Ernst er einst seine Kinderspiele betrieb, und indem er nun seine vorgeblich ernsten Beschäftigungen jenen Kinderspielen gleichstellt, wirft er die allzu schwere Bedrückung durch das Leben ab.“

Dabei verlieren wir nichts, sondern tauschen das Eine zugunsten des Anderen: Das Kind imitiert, was es vom Erwachsenenleben erfahren hat und sein Spiel wird von dem Wunsch bestimmt, endlich „groß“ zu sein. Sind wir dann tatsächlich erwachsen, müssen/können wir auf dieses Rollenspiel verzichten und übertragen stattdessen die Fähigkeit des Tagträumens und Fantasierens auf die „reale“ Welt, wobei Wünsche die Triebfeder sind.

Die Fantasie verbindet alle drei Zeitformen miteinander: Gegenwärtige Eindrücke knüpfen an Erlebnisse in der Vergangenheit an, um zukünftige Ereignisse zu schaffen. Anlass und Erinnerung sind mit der Wunscherfüllung kohärent. Der Wunsch nutzt einen Anlass der Gegenwart, um sich nach dem Muster der Vergangenheit ein Zukunftsbild zu entwerfen.

Gesellschaft ist, wo alles menschenleer…

Eskapist:innen können einen wesentlichen Impuls zu radikalem gesellschaftlichen Wandel geben, auch wenn sie sich von ihr abwenden. Unerfüllte Wünsche machen sehnsüchtig und das führte in der Vergangenheit schon zu Revolutionen. Auch deshalb wird eskapistisches Verhalten gesellschaftlich teilweise geächtet. Zudem sind Fantasien inhaltlich und zeitlich unberechenbar und sie können sowohl aufgrund innerer, als auch aufgrund äußerer Faktoren variieren.

Konformistische Gesellschaften geben uns Ziele vor und haben Erwartungen in Bezug auf unser Handeln. Dem spontanen Gefühl folgend aus der Reihe zu tanzen , reflexartig reaktiv statt reflektiv zu agieren - das wirkt bedrohlich auf Gemeinschaften und Systeme, die darauf angewiesen sind, dass alle Elemente sich fügen und funktionieren. Wer dem Bedürfnis nach Zerstreuung regelmäßig nachgibt, ist womöglich bald selbst zerstreut, unkonzentriert, geistesabwesend. Die Abwesenheit des Geistes führt zum Verlust der lebensnotwendigen Ordnung, zum Verlust des Selbst in den eigenen konfusen Gedanken, zum Verlust von Pflichtbewusstsein, zu Bewusstlosigkeit! Das Chaos bricht aus und die Gemeinschaft muss leiden, so die allgemeine Befürchtung.

Eskapismus fördert den Erwerb und die Erweiterung von Wissen

Eskapismus stellt in der Medienpsychologie auch ein Motiv zum Wissenserwerb und zur Wissenserweiterung dar, denn Medien sind nicht nur Zufluchtsort, sondern befriedigen kognitive Bedürfnisse.

Der norwegische Psychologe Frode Stenseng unterscheidet (negative) Selbstunterdrückung von (positiver) Selbstexpansion, die zur Neuentdeckung persönlicher Eigenschaften durch die Ansammlung positiver Erlebnisse und Kenntnisse führt. Auch Meditation lässt uns dem Alltag entfliehen, ohne sie dabei sofort als toxischen Eskapismus zu verurteilen.

Eskapistische Literatur als künstlerisches Fluchtmedium und Kommentatorin der Primärwelt

Seit den 1930er Jahren florierte und entwickelte sich die eskapistische Fiktion als Genre, geriet aber in den 1940er und 1950er Jahren stark in Kritik. In den 1950er und 1960er Jahren sah man das Thema Eskapismus eher aus einer gesellschaftspolitisch analysierenden Perspektive und erforschte, wie dysfunktionale Gesellschaften Fluchtversuche auslösten. In den 1960er und 1970er Jahren gewann zwar das Fluchtkonzept als Option des Umgangs mit der Unvollkommenheit der eigenen Existenz literarisch an Raum, doch das Motto „wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt“ forderte zunehmend, sich den Problemen im Hier und Jetzt zu stellen.

 

In fiktiven Geschichten tauchen die Leser:innen in eine von Autor:innen kreierte Welt ein und suchen sinnlich-reizvolle Umgebungen auf. An diesen Orten nimmt etwas Gestalt an, was auch für andere wahrnehmbar ist und das gibt uns ein positives Gefühl. Die psychologischen Funktionen eskapistisch-literarischer Fiktion sind die Kompensation von Willkür und Ungewissheit der „realen“ Welt durch Strukturgebung und Problemlösung sowie die Formung einer kritisch engagierten Leserschaft.

Fantasy-Lektüre befähigt zu ernsthafter und kritischer Auseinandersetzung mit realen Lebensthemen. Zum Beispiel lässt sich Satire in Science Fiction-Romanen auf Alltagssituationen übertragen, ebenso die Gedankenfragmente von Protagonist:innnen in Liebesromanen, Krimis, Fantasy-, Mystery- und Horrorliteratur. Sie helfen, die Schranken unserer Denk- und Handlungsmuster zu durchbrechen. Der Konsum von Medien eskapistisch-fiktionalen Inhalts kann glücklich und zufrieden machen. Ihre Produkte können eine ethisch-moralische Orientierungshilfe sein, Reflexion ermöglichen, Problembewältigungsoptionen eröffnen, die Perspektive wechseln lassen, Mut machen, (Selbst-)Sicherheit schenken und die nötige Distanz zur individuellen und sozialen Primärwelt herstellen, um handlungsfähig zu sein. Das ist möglich, weil Konsument:innen fiktionaler Literatur Parallelen zur Primärwelt erkennen und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit gegeben wird, sich von dieser Welt abzuwenden. Wir haben immer die Wahl!

Eskapistische Fiktion ist tiefgründig, lehrreich, komplex, facettenreich interpretierbar, unterhaltsam und oft ideologisch aufgeladen, was ihr Anziehungskraft verleiht. Sie kann zur Persönlichkeitsentwicklung einen Beitrag leisten, sogar die seelische Gesundheit fördern und verdient daher Anerkennung. Die ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Genre ist wert- und sinnvoll.

Tagträume sind kreative Prozesse mit therapeutischer Funktion

Wenn die gesellschaftliche Rolle, die man zu spielen gezwungen ist, unerträgliche Spannung erzeugt, dann darf die Flucht ergriffen werden.

Wenn authentische Persönlichkeitsentfaltung unerwünscht ist und deshalb das wahre Ich nicht in Erscheinung treten kann, wenn andere das Drehbuch schreiben, dann dürfen zumindest die Protagonist:innen, die  es im eigenen Lebensfilm zu verkörpern gilt, frei gewählt werden. Eskapaden sind nützlich, weil sie Schutz und Kontrolle in einem unberechenbaren „realen“ Umfeld bieten.

Aber auch ohne dramatischen Leidensdruck entscheiden wir selbst, ob wir beim Spiel des Lebens mit von der Partie sind, ob wir aus freien Stücken in andere Welten abtauchen wollen. Es lohnt sich genau hinzuschauen, um zu erkennen, ob die „süchtigen“ Eskapist:innen in Wahrheit doch einfach sehnsüchtig sind, ein dem Menschen naturgegebener Gemütszustand, der kommt und geht.


Illusion und Fiktion dürfen das Leben bereichern, ohne Leidensdruck oder die Unterstellung von Disziplinlosigkeit, die der negativen Konnotation von derartigen Fluchtmechanismen zugrunde liegt. Ohne Fantasie und eskapistische Begabung gäbe es weder Kunst noch Literatur.

 

Die wahre Flucht ist letztlich die Flucht vor dem Tod, mithilfe moderner Methoden im Kampf gegen die Vergänglichkeit und dieses Duell wird auf dem Boden der realen Primärwelt ausgefochten.

 

© Katja Tropoja

 


Quellenangaben und Hinweise:

  1. Eskapismus = Weltflucht. Der Begriff "Eskapade" kommt ursprünglich aus dem Reitsport und bezeichnet hier den außerplanmäßigen und damit regelwidrigen Sprung/Schritt des Pferdes.
  2. Der Essay „On Science Fiction“ ist Teil des größeren Werkes „Of Other Worlds: Essays and Stories“, von Clive Staples Lewis, Erstveröffentlichung 1975.
  3. J. R. R. Tolkiens Aufsatz zum erwähnten Vortrag von 1939  "Über Märchen (On Fairy-Stories)" ist erschienen in "Baum und Blatt", S. 9–82, Ersterscheinung 1964. Es wird sogar behauptet, er habe „Der Herr der Ringe“ vorrangig geschrieben, um die Bedeutung dieses Aufsates/Vortrags hervorzuheben.
  4. Die Überschrift "Gesellschaft ist, ... stammt aus einem Gedicht von (Lord) George Gordon Byron:

    Es wohnt Genuss im dunklen Waldesgrüne,
    Entzücken weilt auf unbetretener Düne,
    Gesellschaft ist, wo alles menschenleer,
    Musik im Wellenschschlag am ewigen Meer,
    Die Menschen lieb ich, die Natur noch mehr.

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