Modernisierungsrisiken sind ein Segen für die Demokratie: Warum wir handlungsunfähig werden, wenn wir die Welt nicht als Risiko entwerfen

© Katja Tropoja


Als der Soziologe Ulrich Beck 1986 mit seinem Buch Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne einen Ausblick auf zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen gab, war die nukleare Katastrophe von Tschernobyl noch nicht eingetreten. Die klassische Industriegesellschaft gehörte aber bereits der Vergangenheit an. Ihre eigene Dynamik bereitete einer reflexiven Modernisierung und infolgedessen der Risikogesellschaft, wie Beck sie nennt, den Weg. In ihr muss sich die einstige Industriegesellschaft mit latenten und selbst erzeugten Modernisierungsrisiken auseinandersetzen. Reflexiv bedeutet hier, dass der Prozess der Modernisierung und dessen Verselbständigung sich selbst zum Gegenstand werden. Deren Eigendynamik beschleunigt Fortschritte in Technik und Wissenschaft. Charakteristisch an diesem Vorgang ist seine Latenz, d. h. er findet zunächst unbemerkt statt- Auf einer zweiten Stufe wird sie jedoch durch die Verwissenschaftlichung der Modernisierungsrisiken aufgelöst.

 

In der Industriegesellschaft bildete der Wohlstand die Legitimationsgrundlage für wissenschaftlich begründeten, technischen Fortschritt. Die Wissenschaften der Risikogesellschaft beschäftigen sich zusätzlich mit den Folgen ihrer eigenen Aktivitäten und Ergebnisse. So sah Becks Prognose zum damaligen Zeitpunkt aus und in dieser Reflexivität der Wissenschaften erkennt er den eigentlichen Übergang in eine neue Gesellschaftsform:

 

„Die Konstellationen der Risikogesellschaft werden erzeugt, weil im Denken und Handeln der Menschen und Institutionen die Selbstverständlichkeiten der Industriegesellschaft (der Fortschrittskonsens, die Abstraktion von ökologischen Folgen und Gefahren, der Kontrolloptimismus) dominieren.“

(Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen, 1993).

Kennzeichen risikogesellschaftlicher Strukturen

Beck definiert Risiken als „Modernisierungsprodukt von verhinderungswertem Überfluss.“ Sie sind nicht naturgegeben, sondern entstehen erst im Zuge der Modernisierung und deren Vervielfältigungscharakteristik, stets im Streben nach Reichtum und im Sinne einer „positiven Aneignungslogik“, wie es Beck nennt. Zudem verursachen sie zahlreiche gesellschaftliche Konflikte, die vor allem aus der umgekehrten Proportionalität von Risiko und Reichtum resultieren: Die ärmsten und schwächsten Akteure der Industriegesellschaft hatten das höchste (Lebens-)Risiko zu tragen.

 

Eine Risikogesellschaft kann sich in erster Linie überhaupt erst entwickeln weil deren Mitglieder die Illusion vom Segensreichtum technisch-wissenschaftlichen Fortschritts nicht aufgeben wollen. Manches reguliert sich bekanntlich von selbst und so bietet die Risikogesellschaft früher oder später ausgleichende Gerechtigkeit: Wir werden alle irgendwann von den Risiken der Modernisierung heimgesucht (Feinstaub, Elektrosmog, Lebensmittelskandale, radioaktive Strahlung, usw.). Umweltprobleme sind ein globales Phänomen, jenseits sozialer Schranken. Waren in der Industriegesellschaft noch Verteilungskämpfe zentrales Thema, fordert die Risikogesellschaft nun Sicherheit und Risikoreduktion.

 

Risiken zeichnen sich dadurch aus, dass sie nichts Reales haben. Es geht um Ereignisse, die möglicherweise stattfinden. Sicher ist das nicht, deshalb lassen sie sich leicht aus dem Bewusstsein verdrängen:

 

„In der Risikogesellschaft verliert die Vergangenheit die Determinationskraft für die Gegenwart. An ihre Stelle tritt die Zukunft, damit aber etwas Nichtexistentes, Konstruiertes, Fiktives als Ursache gegenwärtigen Erlebens und Handelns.“

(Ulrich Beck: Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne,
1986)

 

Ist das befürchtete Ereignis eingetreten, können wir versuchen, die Folgen einzudämmen. Gelingt uns dies nicht, besteht noch die Möglichkeit, das Problem nicht zum Thema zu machen, es nicht in die Öffentlichkeit zu tragen, es zu ignorieren.

 

Die Risikogesellschaft ist Informations- und Wissenschaftsgesellschaft

Sind Modernisierungsrisiken latent, können wir sie weder erkennen, noch begrifflich konkretisieren. Um dies zu ändern, sind wir auf die Wissenschaften angewiesen. Bei ihnen liegt die Macht zu entscheiden, ob ein Risiko vorliegt oder nicht und wen es persönlich betrifft oder betroffen machen muss. Erst das Wissen darum und die Art und Weise wie dieses Wissen verbalisiert und kommuniziert wird, erzeugt das Risiko im Bewusstsein und somit Betroffenheit. 

 

Wir sind dabei nicht nur auf die Wissenschaften angewiesen, sondern auch auf die mediale Verbreitung wissenschaftlicher Arbeitsergebnisse durch Medien. Es ist dabei durchaus möglich, dass Menschen, die besonders stark von einem Risiko betroffen sind, gar kein Bewusstsein davon haben, weil ihnen das Wissen fehlt. Wessen Existenz unmittelbar bedroht ist, wer gegenwärtig um sein Überleben kämpft, für den sind zukünftige Risiken nicht relevant. Umgekehrt werden Menschen zu Risikoexperten, obwohl es sie nicht unmittelbar betrifft und sie auch direkt keine Einflussmöglichkeit haben.

 

Wissenschaftliche Forschungsergebnisse werden in der Regel auch umgesetzt. Vor allem in der Industrie ist das so und hier unterliegen sie der kommerziellen Nutzung. Anschließend brauchen wir die Forschung, um Risiken der Ergebnisanwendung zu beseitigen. Ob es ein Risiko überhaupt gibt, ist dabei abhängig von wirtschaftlichen Interessen bestimmter Akteure:

 

„Die Produktion von Risiken und ihre Verkennung hat also ihren ersten Grund in einer ökonomischen Einäugigkeit der naturwissenschaftlich-technischen Rationalität. Deren Blick ist auf die Produktivitätsvorteile gerichtet. Sie ist damit zugleich mit einer systematischen Risikoblindheit geschlagen.“
(
Ulrich Beck: Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne,
1986)

 

Dadurch entstehen immer neue Risiken und folglich eine Reflexivität der Wissenschaft. Das heißt, die Risikobewältigung fällt immer wieder auf die Wissenschaft zurück, obwohl sie kaum Einfluss darauf hat, wie und durch wen ihre Forschungsergebnisse letztlich genutzt werden.

 

Organisierte Unzurechenbarkeit und Unüberschaubarkeit

In den Wissenschaften ist vor allem der hohe Differenzierungs- und Spezialisierungsgrad problematisch. Die Heterogenität der Forschungsergebnisse bietet viele verschiedene Varianten der Interpretation. Zudem sind Risiken niemals isoliert zu betrachten, sondern ihre Komplexität kann nur im Zusammenhang erkannt und bewertet werden. Das führt zu einer Unüberschaubarkeit für Akteure anderer Teilsysteme.

 

Das Streben nach Wachstum und Reichtum in neoliberalen Wirtschaftssystemen beschränkt das Eingreifen des Staates in wissenschaftliche und ökonomische Prozesse. Die moderne Gesellschaft hat kein Steuerungszentrum, sagt Beck. Deshalb vermittle der Staat dem Einzelnen „Entwicklungsrichtung und Ergebnis des technischen Wandels als Ausdruck unausweichlicher technisch-ökonomischer Sachzwänge.“

 

Diese „Sachzwänge“ rechtfertigen wiederum die Handlungen einzelner Akteure und dynamisieren die Entwicklung der Risikogesellschaft:

 

„Die Entscheidungen, die die Gesellschaft verändern, haben keinen Ort, an dem sie hervortreten können, werden sprachlos und anonymisiert. In der Wirtschaft werden sie in Investitionsentscheidungen eingebunden, die das gesellschaftsverändernde Potential in die ungesehene Nebenfolge abdrängen. Die empirisch-analytischen Wissenschaften, die die Neuerungen vordenken, bleiben in ihrem Selbstverständnis und ihrer institutionellen Einbindung von den technischen Folgen und den Folgen der Folgen, die diese haben, abgeschnitten.“(Ulrich Beck: Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne,
1986)

 

Politische Entscheidungen dienen schließlich nur noch dazu, Handlungen anderer Akteure zu legitimieren. Letztlich ist niemand wirklich verantwortlich, weil unterschiedliche Modernisierungsrisiken von verschiedenen Teilsystemen erzeugt werden und alle zur gleichen Zeit zuständig sind. „Fortschritt ist die in die Unzuständigkeit hineininstitutionalisierte Gesellschaftsveränderung“, sagt Beck. Alle agieren nur innerhalb ihres ausdifferenzierten Teilsystems.

 

Dynamische Individualisierungsprozesse als Risiko und Chance

Die einzelnen Akteure der Risikogesellschaft müssen für Modernisierungsrisiken zunehmend sensibilisiert sein, wenn sie handlungsfähig bleiben wollen. Sie müssen wissen, dass ihre Ursache in den jeweiligen Teilsystemen liegt. Individualisierungstendenzen führen laut Beck dazu, dass jeder auf sich selbst bezogen und zurückgeworfen ist und dass sich jeder hauptsächlich der Planung des eigenen Lebenslaufs widmet. Er sieht sie als Nebenprodukt des reflexiven Charakters der Risikogesellschaft und definiert sie als Abspaltung von sozialen Gefügen, wie sie in der Industriegesellschaft üblich waren. Damit meint er soziale Klassen, familiäre Traditionen, geschlechtsspezifische Kategorien. Das führt u. a. dazu, dass sich Biographien von Männern und Frauen schwerer synchronisieren lassen als das in der Industriegesellschaft der Fall war. Flexible Lebensführung ist mit dauerhafter Bindung kaum vereinbar. Bemerkenswert dabei ist, dass aber gerade die Industriegesellschaft dieser Tendenz den Weg bereitet hat:

 

„Die freigesetzten Individuen werden arbeitsmarktabhängig und damit bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen, von Verkehrsplanungen, Konsumangeboten, Möglichkeiten und Moden in der medizinischen, psychologischen und pädagogischen Beratung und Betreuung.“

(Ulrich Beck: Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne,
1986)

 

 

Laut Beck liegt aber dennoch der Schlüssel zum Ausstieg aus der Risikogesellschaft eben genau im Bezug des Individuums auf sich selbst und in dessen vollständiger Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben. Das soll jedoch nicht ausschließlich innerhalb des eigenen Teilsystems geschehen, sondern systemübergreifend und außerhalb der Institutionen. Individualisierung schafft und erweitert somit Handlungsspielräume und dem Individuum stehen viele Wege offen. Es muss sich permanent für oder gegen etwas entscheiden. Dabei ist es stets gezwungen, autonom zu sein, wenn alle übrigen Teilsysteme nicht zuständig sind.

 

Im Sinne Sartres sagt Beck:

 

„Der Mensch wird zur Wahl seiner Möglichkeiten, zum homo optionis. Leben, Tod, Geschlecht, Körperlichkeit, Identität, Ehe, Elternschaft, soziale Bindungen – alles wird sozusagen bis ins Kleingedruckte hinein entscheidbar, muß, einmal zu Optionen zerschellt, entschieden werden.“
(Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, 1994)

 

Distanz zu den Teilsystemrationalitäten und Entdifferenzierung

Wer Abstand zum Teilsystem gewinnt, kann sich den Sozialrationalitäten widmen. Das gelingt noch besser, wenn man es schafft, in Kontexten zu denken und sich sozial zu entdifferenzieren. Indem die Politik ihre Verantwortlichkeit und damit auch einen Teil ihrer Macht teilweise auf den individualisierten, politisierten Akteur überträgt, kann dieses Ziel erreicht werden. Das bedeutet auch, dass sich die Politik in manchen Teilbereichen damit abfinden muss, handlungsunfähig zu sein und sie sollte das auch öffentlich zuzugeben. Nur so lässt sich institutionell organisierte und latente Unverantwortlichkeit überwinden. Dazu bedarf es der Unabhängigkeit der Justiz, leistungsfähigen Medien mit hoher Reichweite und eines funktionierenden Bildungssystems, das zu politisch verantwortungsbewusstem Handeln befähigt:

 

„Die Bewältigung der Risiken zwingt zum Überblick, zur Zusammenarbeit über alle sorgfältig etablierten und gepflegten Grenzen hinweg. … Insofern werden in der Risikogesellschaft die Entdifferenzierung der Subsysteme und Funktionsbereiche, die Neuvernetzung der Spezialisten, die risikoeindämmende Vereinigung der Arbeit das systemtheoretische und –organisatorische Kardinalproblem.“

 (Ulrich Beck: Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne,
1986)

 

Die Verantwortung der Wissenschaft für den Abbau von Unsicherheiten

Die Wissenschaften besitzen keine Mystik. Expertenwissen muss keine Geheimnisse verbergen, sondern darf öffentlich kommuniziert werden. Die Definition von Risiken muss über den wissenschaftlichen Weg geschehen und das geht immer mit einem erheblichen Konfliktpotential zwischen den einzelnen Disziplinen einher. Deshalb und weil man sich vor der Auseinandersetzung mit zum Teil selbstverursachten Problemen scheut, gibt es eine gewisse Zurückhaltung des Wissenschaftsbetriebes, sich dieser Verantwortung zu stellen. An dieser Stelle ist jeder politisierte Einzelakteur und somit die gesamte Gesellschaft gefragt. Alle müssen wachsam sein und riskante Sachverhalte konsequent an die Öffentlichkeit bringen. Gelingt dies nicht, dann geraten Fragestellungen in nichtwissenschaftliche Sphären, die eigentlich einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung bedürften. Ebenso unwissenschaftlich fallen dann oftmals die Antworten aus.

 

Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit müssen die Wissenschaft dazu auffordern, sich den Risiken empirisch zu stellen, den Grad der Differenzierung bei den Einzeldisziplinen zu minimieren und verstärkt kooperativ zusammenzuarbeiten. Dabei muss es gleichzeitig aber auch möglich sein, ungestraft Fehler zuzugeben, Forschungsergebnisse und darauf aufbauende Maßnahmen notfalls rückgängig zu machen und seine Meinung zu ändern.

 

Voraussetzung für diese Maßnahmen ist wiederum eine moderne, demokratische Gesellschaft:

 

„Reflexive Modernisierung, die auf die Bedingungen hochentwickelter Demokratie und durchgesetzter Verwissenschaftlichung trifft, führt zu charakteristischen Entgrenzungen von Wissenschaft und Politik. Erkenntnis- und Veränderungsmonopole werden ausdifferenziert, wandern aus den dafür vorgesehenen Orten ab und werden in einem bestimmten, veränderten Sinne allgemeiner verfügbar.“
(
Ulrich Beck: Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne,
1986)

 

© Katja Tropoja

Kommentar schreiben

Kommentare: 0