Konstruierte Natur und naturwüchsige Gesellschaft: Warum die Moderne sich selbst belügt

© Katja Tropoja


Hauptforschungsbereich des französischen Sozialwissenschaftlers Bruno Latour ist die Wissenschafts- und Technikforschung, unter Einbeziehung gesellschaftstheoretischer Aspekte. Mit einem seiner Hauptwerke „Nous n’avons jamais été modernes“ (Wir sind nie modern gewesen) von 1991 stellte er die Produkte naturwissenschaftlicher Forschung in den Kontext ihrer soziokulturellen Entstehung. Ausgangspunkt war die These, dass alles, was wir bisher an Erkenntnissen über die natürliche Beschaffenheit von Materiellem gewonnen haben, im Rahmen eines sozialen Gefüges kognitiv von uns konstruiert ist. Darüber hinaus haben Zielsetzung und Strategie der forschend Tätigen erheblichen Einfluss darauf, welches Wissen publiziert wird. Regelmäßig findet „Enrollment“ statt, d. h. unterschiedliche Interessengruppen bilden Allianzen, um bestimmte Forschungsziele zu propagieren und zu etablieren. Dazu gehören vor allem die Medien, sowie die Justiz mit ihrem Streben nach rechtlicher Normierung, so zum Beispiel in der Genforschung.

 

Im nächsten Schritt untersuchte Latour, in wie fern das gesellschaftsstrukturelle Einwirken auf Naturwissenschaft und Technik die moderne Gesellschaft beeinflusst. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den Auswirkungen dieser als objektiv dargestellten Ergebnisse von Wissenschaftsproduktion, bei denen es sich um konstruierte Artefakte handelt, auf unterschiedliche Teile der Gesellschaft.

 

Latour erläutert das beispielhaft an einem Zeitungsartikel, der das Loch in der Ozonschicht zum Gegenstand hat:


„(…) Ein und derselbe Artikel vermischt chemische und politische Reaktionen. Ein roter Faden verbindet die esoterische Wissenschaft mit den Niederungen der Politik, dem Himmel über der Antarktis mit irgendeiner Fabrik am Rande von Lyon, die globale Gefahr mit der nächsten Wahl oder Aufsichtsratssitzung.“

 

(Bruno Latour: "Wir sind nie modern gewesen“,  1991)

 

Sein Zwischenfazit lautet:

Die Verbindung von Natur und Gesellschaft ist untrennbar. Es gibt keine Abgrenzung und die „Hybride“ breiten sich aus.

 

Die Gesellschaft aus dem Labor

Hybride sind Nebenprodukte des Zusammenwirkens von Natur und Gesellschaft. Sie sind kein modernes Phänomen, denn seit der Mensch im Rahmen des technischen Fortschritts Werkzeuge entwickelt, konstruiert und benutzt, expandieren und vervielfältigen sie sich. Neu und modern ist aber, dass Hybride uns immer begleiten und dass sie sich mit hoher Geschwindigkeit vermehren. Sie gehören stets zu unserer Gegenwart und hinzu kommt, dass sie größtenteils nicht wahrgenommen werden. Wird man auf sie aufmerksam, dann werden sie fehlinterpretiert.

 

Reproduktionsstätte für Hybride ist hauptsächlich das Labor, meint Latour. Hier verschmelzen Natur und Gesellschaft ineinander. Hier entsteht die Grundlage der modernen Gesellschaft, die Gesellschaft aus dem Labor. Das bezeichnet Latour als den „fundamentalsten Aspekt unserer Kultur“. Für ihn garantieren Hybride überhaupt erst die soziale Ordnung und sie haben die Macht, diese auch wieder zu zerstören.

 

Entkopplung von Reden und Handeln

Problematisch wird es, wenn Reden und Handeln nicht übereinstimmen. Dass jemand anders handelt als er sollte, weil er es muss, ist nicht ungewöhnlich. Dann aber so zu reden, als ob man so handelt, wie man sollte, verkompliziert die Angelegenheit. Das kommt besonders beim modernen Umgang mit Hybriden zum Tragen.

 

Die Moderne glaubt, was sie sich selbst erzählt und täuscht sich damit selbst. Die größte Täuschung besteht dabei in der Separiertheit von Gesellschaft und Natur: Letztere ist „im Außen“. Wir haben sie nicht erschaffen, verändern und formen sie aber permanent und erfolgreich. Im Gegensatz dazu ist die Gesellschaft ein menschliches Produkt. Dennoch schafft es der moderne Mensch nicht, sie vollständig zu kontrollieren. Sie ist nicht planbar. Tatsächlich findet eine Vergesellschaftung des Natürlichen statt. Die moderne Gesellschaft nimmt dagegen ihren natürlichen Lauf, ihre Natur entgleitet uns und verselbstständigt sich. Die Moderne blendet diese Tatsachen aus. Sie verhält sich, als sei die Natur kein Konstrukt und die Gesellschaft kein Ergebnis eines natürlichen Prozesses. Sie leugnet es, indem sie einerseits durch Netzwerkbildung (Hybride) zwischen Natur und Gesellschaft vermittelt, um dann andererseits immer darauf bedacht zu sein, eine klare Trennung beider Sphären zu betonen. Wesentliches Merkmal der Moderne ist also die Selbsttäuschung. Diese besteht auch in der Behauptung, Hybridbildung sei beherrschbar. Tatsächlich hat sich ihre Vervielfältigung längst verselbstständigt. Der Effektivität der Reinigungsarbeit, des Redens, ist in einem kritischen Zustand. Sie ist es, weil die Vermittlungstätigkeit, das Handeln, mehr Schaden verursacht als dass sie von Nutzen wäre.

Erfolg durch Selbsttäuschung

Wie bereits erwähnt, kannten schon vormoderne Gesellschaften den Akt der Vermittlung (Hybridbildung). Das kann es demnach nicht sein, was die Moderne ausmacht. Der Unterschied liegt vielmehr darin, was selbsttäuschend über die Handlung erzählt wird:
Der Reinigungsprozess, der Natur von Gesellschaft sauber trennt.
Er ermöglicht die Herrschaft der Gesellschaft über die Natur durch Hybride und identifiziert das als Erfolgsfaktor. Das haben die „Vormodernen“ nicht gemacht. Natur und Gesellschaft waren eins, nämlich beides beseelt, gottgegeben und von vorn herein miteinander verwoben, ohne menschliches Zutun. Diese Beseeltheit galt auch für menschliche Artefakte. Jeder willkürliche Eingriff konnte dieses Gebilde aus dem Gleichgewischt bringen.

 

Hybridbildung ist kontrollierbar

Die Vorgehensweise ist immer ähnlich: Zuerst werden die Vorteile technischer Entwicklungen und naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse betont, anschließend wird darauf hingewiesen, dass negative Begleiterscheinungen nur mit Hilfe der Wissenschaft beseitigt werden können.

 

Die Lösung liegt laut Latour darin, die Verbindung von Natur und Gesellschaft zu akzeptieren. Natur darf weiterhin beherrscht werden, auch Hybride darf es geben, man darf ihr Dasein aber nicht leugnen. Sie dürfen sich auch vermehren, man dürfe nur nicht behaupten, sie hätten keine Vermittlungsfunktion. Dann wären Reden und Handeln wieder aneinander gekoppelt und man hätte die Vorteile des für die Moderne typischen Dualismus vereint mit den Vorzügen des Monismus der Vormoderne.

 

Zu diesem Zweck schlägt Latour die Bildung eines Forums von Akteuren innerhalb eines hybriden Netzwerkes vor, d. h. Naturwissenschaftler, Ingenieure, von der Innovation unmittelbar Betroffene, usw. Dort haben sie die die Gelegenheit, über Natur- und Gesellschaftsbedingtheit ihres Handelns und dessen Folgen zu reflektieren und über die von ihnen selbst erzeugte „Objekt-Diskurs-Natur-Gesellschaft“ zu reden.

 

 

Wer am meisten über Hybride nachdenkt, verbietet sie soweit wie möglich; wer sie dagegen ignoriert, indem er alle gefährlichen Konsequenzen ausblendet, entwickelt sie, soweit er kann.

 

(Bruno Latour: "Wir sind nie modern gewesen“,  1991)

 

© Katja Tropoja

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