Die Epidemie des Wertes im hyperrealen Raum: Wie aus der Repräsentationskraft von Symbolik virale Simulation entsteht

© Katja Tropoja


Der französische Philosoph und Soziologe Jean Baudrillard entwickelte eine Zeichentheorie auf der Grundlage existenzialistischer Anthropologie. Henri Lefèbvres Arbeiten über die Entfremdung des Alltagslebens und die urbanistische Moderne hatten ihn dabei stark beeinflusst, ebenso wie die Konzepte der Situationistischen Internationale und der Strukturalismus.

 

In den 1970er Jahren lautete die zentrale These seiner Zeichentheorie: Industrieprodukte haben nicht länger den Stellenwert von Gütern als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung, sondern werden zum Fetisch innerhalb eines Raumes, in dem sich alles auf sich selbst bezieht. Den Begriff „Verbrauch“ hielt er für unzutreffend, da dieser ein Ende des Bedürfnisses impliziere. Tatsächlich höre aber der Prozess des Aufgefordert Werdens niemals auf.

Es gibt eine wissenssoziologische Grundlage für die Beschleunigung und Emanzipation freier flottierender Zeichen

Wer eine These aufstellt, muss akzeptieren, dass es keinen endgültigen Anspruch auf Wahrheit dieser Behauptung gibt, denn es gibt viele unterschiedliche Perspektiven, die durch eine Vielzahl von Akteuren auch wirksam artikulierbar sind. Deren Reichweite ist groß. Baudrillard bezeichnete das als schicksalhaftes Faktum für die Kultur des Abendlandes. Die Ursache dafür sah er in einer rasanten Beschleunigung und dynamischen Veränderung bei der (Um-)Bezeichnung der Dinge. Dabei kommt es zur Emanzipation der Zeichen vom Bezeichneten, ihre Verbindung löst sich allmählich auf. Dieser Vorgang gipfelt in der Entstehung einer Simulationsgesellschaft, so Baudrillard in: „Der symbolische Tausch und der Tod“, 1976.

 

Diese modernen Zeichen, die Baudrillard meint, nennt er Simulakren (simulacre: das Trugbild, das Blendwerk, die Fassade,
der Schein
). Zwischen ihnen und dem Bezeichneten gibt es keine Verbindung. Sie muss erst über den Umweg der Verstandesleistung hergestellt werden. Im Gegensatz dazu unterscheidet das Symbol nicht zwischen Zeichen und Bezeichnetem, sondern repräsentiert letzteres. Anschaulich stellt Baudrillard das am, auf moderne Weise verwissenschaftlichen, Begriff des Todes dar: Die Moderne hat ihn materialisiert und naturalisiert. In vormodernen, archaischen“ Gesellschaften hatte er dagegen stets die Form einer sozialen Beziehung, wie jede andere naturgegebene und sinnlich erfassbare Erscheinung auch.

Der Zeichenwandel durchläuft vier Entwicklungsstadien der Verselbständigung

Zeichen verwandeln sich von ihrer archaischen Form in eine emanzipierte und übernehmen ihre Systemorganisation selbst, wobei die Gesellschaft außen vor bleibt.

 „Emanzipation des Zeichens: Entbunden von der archaischen Verpflichtung, etwas bezeichnen zu müssen, wird es schließlich frei für ein strukutrales oder kombinatorisches Spiel, in der Folge einer totalen Indifferenz und Indetermination, die die frühere Regel einer determinierten Äquivalenz ablöst."

 

(Jean Baudrillard: "Der symbolische Tausch und der Tod“,  1976)

 

Imitierende Zeichen

Mit Beginn der Renaissance und der Auflösung feudaler Ordnungssysteme hatten Zeichen einen imitierenden Charakter in Bezug auf Mensch und Natur.

 

„Im Simulakrum einer Natur findet also das moderne Zeichen seinen Wert. Die Problematik des Natürlichen, die Metaphysik von Realität und Schein ist seit der Renaissance die der Bourgeoisie insgesamt: Spiegel des bürgerlichen Zeichens, Spiegel des klassischen Zeichens. Noch heute ist die Nostalgie einer natürlichen Referenz des Zeichens lebendig.“

 

(Jean Baudrillard: "Der symbolische Tausch und der Tod“,  1976)

 

So war zum Beispiel das antike Theater noch an die Symbolik der Mythologie gekoppelt, während das Theater des Barock bereits das Dasein des Menschen in seiner natürlichen Form darstellte und auf distanzierte Weise imitierte.

Produzierende Zeichen

Mensch und Natur sind ab dem Beginn der Industrialisierung nicht mehr Bezugspunkt von Simulakren und sind nicht länger auf eine bestimmte Funktion fixiert. An ihre Stelle treten das Produktionsergebnis und der Tauschwert: „Man wendet sich ab vom Naturgesetz und seinen Formspielen und geht über zum Marktgesetz des Wertes und seinen Kräftekalkulationen.“
(Jean Baudrillard in: „Der symbolische Tausch und der Tod“.)

Ein Beispiel dafür ist die Maschine. Sie imitiert nicht, sondern sie ist selbst ein Symbol für effektive Produktivität. Auch die Arbeit selbst ist ein solches Simulakrum, denn ihr Bezugspunkt ist die Wertschöpfung, nicht der Mensch. Ebenso ist das Geld hier einzuordnen. Während es sich als imitierendes Zeichen noch auf naturgegebene Tauschwerte bezog, ist es auf dieser zweiten Stufe „die erste Ware, die Zeichenstatus erlangt und dem Gebrauchswert entkommt. Es ist die Verdoppelung des Tauschwertsystems in einem sichtbaren Zeichen, und in dieser Eigenschaft das, was den Markt (und damit auch den Mangel) in seiner Transparenz veranschaulicht.“ (a. a. O.)

Strukturale Zeichen

Sie beziehen sich ausschließlich auf ihre eigenen Strukturen. Weder die Natur, noch Effektivität oder Produktivität stellen Bezugspunkte dar, sondern modellhafte Erscheinungsformen. Damit ist der Eintritt in das „simulative Zeitalter“ vollzogen. Beispiele dafür sind Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Kultur, Sexualität und Mode. Darüber hinaus gewinnt auch die Arbeit einen strukturalen Charakter, nämlich die Notwendigkeit von Beschäftigung als Anwesenheitsverpflichtung, ohne finalen Bezugspunkt in Form von Produktivität und Konstruktivität.

 

„Die Menschen müssen überall fixiert werden, in der Schule, in der Fabrik, am Strand, vor dem Fernseher oder in der beruflichen Weiterbildung - eine permanente und generelle Mobilisierung. Diese Arbeit ist jedoch nicht mehr im ursprüngichen Sinne produktiv: Sie ist nur noch der Spiegel der Gesellschaft, ihr Imaginäres, ihr phantastisches Realitätsprinzip.“

 

(Jean Baudrillard: "Der symbolische Tausch und der Tod“,  1976)

 

In den Ausprägungsformen der modernen Informations- und Kommunikationsgesellschaft erkannte Baudrillard am deutlichsten den Verlust der Symbolik, zugunsten emanzipativer Simulation, denn „die Medien sind dasjenige, welches die Antwort für immer untersagt, das, was jeden Tauschprozess verunmöglicht. (…) Darin liegt ihre wirkliche Abstraktheit. Und in dieser Abstraktheit gründet das System der sozialen Kontrolle und der Macht.“ (Jean Baudrillard in: „Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen“, 1978).

Virale, fraktale, bestrahlte Zeichen

Es gibt nichts mehr, worauf sie referieren, weder auf Natur und Mensch, noch auf bestimmte Codes: „Der Wert strahlt in alle Richtungen, in alle Lücken, ohne irgendeine Bezugnahme auf irgendetwas, aus reiner Kontiguität.“ (Jean Baudrillard, in: „Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene“, 1990). Besonders deutlich wird das für die Simulakren Arbeit und Geld, in Form einer Abspaltung der Realwirtschaft von den nun autonomen Finanz- und Kapitalmärkten: „Die Ökonomien produzieren schließlich weiter, obwohl die kleinste logische Folge von Schwankungen der fiktiven Ökonomien bereits ausreichen würde, um sie zu vernichten.“ (a. a. O.). Arbeit dient jetzt dazu, Konsumfähigkeit zu garantieren und ein hohes Gütervolumen in Umlauf zu bringen, es dort zu halten und möglichst zu steigern.

jenseits des realen

Virale Simulakren rebellieren und produzieren ihre eigenen Realitäten, aus denen wieder neue Simulakren entstehen. Diese ersetzen reale Ereignisse und bewahren diese in einem hyperrealen Raum.

 

„Heute ist alles befreit, das Spiel ist gespielt, und wir stehen gemeinsam vor der entscheidenden Frage:
WAS TUN NACH DER ORGIE?...
Das ist der Zustand der Simulation, in dem wir alle Szenarios nurmehr durchspielen können, weil sie bereits stattgefunden haben - real oder virtuell. Das ist der Zustand der realisierten Utopie, der Zustand aller realisierten Utopien, in dem man paradoxerweise weiterleben muss, als ob sie nicht realisiert wären.“

 

(Jean Baudrillard: "Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene“,  1990)

 

© Katja Tropoja

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