Leistungsstark und zügellos : Die Dynamik der Moderne entzieht sich unserer Kontrolle

© Katja Tropoja

"Solange die Institutionen der Moderne Bestand haben, werden wir niemals imstande sein, Richtung oder Geschwindigkeit völlig unter Kontrolle zu kriegen."
(Anthony Giddens).


Gesellschaft als Handlungskonsequenz und Strukturzusammenhang

Der britische Soziologe Anthony Giddens schuf mit seinem Hauptwerk „The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration“ von 1984 die Grundlage seiner darauffolgenden Gegenwartsdiagnosen: Die Theorie der Strukturierung. Sie geht davon aus, dass Handlungen von Akteuren innerhalb einer Gesellschaft und die das soziale Zusammenleben ordnenden Strukturen miteinander verschmelzen, so dass es keinen Gegensatz zwischen subjektivem Agieren und objektivem Ordnungssystem gibt. Auch sein Werk „The Consequences of Modernity“ aus dem Jahr 1990 beruht auf der These, dass strukturelle Kontexte und Konsequenzen subjektiven Handelns zeitgleich und miteinander verbunden ablaufen.


Strukturen sind Bestandteil, Voraussetzung und Folge von Handlungen, während sie zugleich restriktiv auf sie wirken. Sie besitzen keine Eigenständigkeit, sondern werden erst innerhalb sozialer Systeme, im Rahmen praktischen Handelns, lebendig. Dieser Zusammenhang ist es, der in einem ständigen, rekursiven Prozess die Gesellschaft formt.

 

Dabei müssen hinter einer Handlung weder Absicht, noch Zweck stehen, um sie als solche zu definieren. Wichtig ist nur, dass der Handelnde durch sein Agieren etwas verändert, eine Wirkung hervorruft. Das kann auch zufällig geschehen und es ist nicht nötig, dass er weiß, warum er so handelt, wie er es tut. Regeln und Normen können unsinnig und nicht zielführend erscheinen, aber dennoch von den Akteuren genau befolgt und umgesetzt werden. Wir steuern unsere Handlungen stets reflexiv und verändern dabei permanent unsere Umwelt, um anschließend wieder neue Strukturen zu erzeugen. Auch ohne Sinn und Zielführung.

Dynamisierte Prozesse in der globalisierten Moderne

Anthony Giddens definiert die Moderne als soziale Erscheinungsform in Europa, mit Beginn des 17ten Jahrhunderts. In besonderem Maße ist diese Moderne durch eine ausgeprägte Dynamik im Umgang mit dem Verhältnis von Raum und Zeit, sowie durch den hohen Stellenwert der Herstellung von Vertrauen gekennzeichnet. Die Korrelation von Distanz und Dauer ist, aufgrund der rasanten Entwicklungen in der Kommunikations- und Transporttechnologie, kaum mehr vorhanden. Daraus resultiert, dass soziale Beziehungen an Unmittelbarkeit verlieren, indem sie aus der jeweiligen Situation und ihrem Zusammenhang herausgelöst werden. Das Interagieren ist in diesen Beziehungen nicht mehr auf einen bestimmten Ort beschränkt, sondern kann die Grenzen von Raum und Zeit überschreiten. Deshalb wird Vertrauen für die raumzeitliche Ordnung sozialer Beziehungen immer wichtiger.

 

Von großer Bedeutung ist diese Dynamik, weil sie sich in kapitalistischen, durch Industrialismus geprägten Gesellschaften immer intensiver und radikaler in ihren Auswirkungen präsentiert. Das gilt auch für die Überwachung der gesellschaftlichen Akteure und Kontrolle der Gewaltmittel, wo sie ihre volle Wirkung entfaltet. Moderne Institutionen agieren innerhalb einer kapitalistischen Weltwirtschaft und militärischen Weltordnung immer schneller, sie weiten ihren Radius aus und strukturieren sich aufgrund der Dynamik fortlaufend vollkommen neu.

 

Das Monopol über die Mittel zur Gewaltanwendung wird vor allem innerhalb territorial festgelegter Grenzen von Nationalstaaten und in Militärmächten institutionell verankert und wahrgenommen. Diese Staaten sind zwar souverän und autonom, gleichzeitig gibt es aber eine weitreichende, zentralistische Verwaltungsordnung im Netzwerk der Einzelstaaten. Ein internationales Staatengelecht kontrolliert den Informationsfluss und überwacht die Gesellschaft.

Globale Modernisierungsrisiken

Was sich am anderen Ende der Welt ereignet, hat  in der Moderne Auswirkungen auf das persönliches Leben und auf das, was wir innerhalb der Gesellschaft erfahren. Unsere individuellen Entscheidungen haben wiederum Konsequenzen für das Ökosystem und für die Lebensbedingungen ganzer Gesellschaften auf anderen Kontinenten. Zudem bekommen Traditionen in ihrer Funktion als Problemlöser in der Moderne eine andere Bedeutung. Wer sich an sie hält, muss dies begründen, sich dafür rechtfertigen, wird als Fundamentalist bezeichnet, wenn die Tradition religiös begründet ist. Auch die Natur selbst gehört in diese Kategorie, die ständig hinterfragt und auf ihre Unabänderlichkeit hin überprüft wird, zum Beispiel in der Gentechnik.

 

Wir müssen Informationen filtern, die „richtigen“ auswählen, um dann die „richtigen“ Entscheidungen zu treffen. In jedem Fall müssen wir uns entscheiden, denn das entscheidet darüber, wer wir sind. Sich nicht zu entscheiden, unentschlossen zu sein, wird nicht toleriert. Der Entwurf des eigenen „Storyboards“ verlangt eine Entscheidung, sonst sind wir niemand. Auf diese Weise individualisieren wir uns. Dabei müssen wir mit anderen in Kontakt treten, uns gegebenenfalls auch mit ihnen solidarisieren, auch wenn wir das gar nicht wollen. Die Moral trennt sich von der lokalen Tradition, um sich global der Individualität zuzuwenden. So bringt man Solidarität innerhalb einer Gemeinschaft und Individualität des Einzelnen scheinbar bequem unter einen Hut.

 

Lokale Risiken werden global ausgeweitet und potenzieren sich in Form von militärischen Auseindandersetzungen. Zusätzlich schaffen globalisierte Institutionen eine riskante Umwelt, wie das auf dem internationalen Kapitalmarkt zu beobachten ist. Wir sind uns bewusst, dass unser Wissen begrenzt ist, dass wir manchmal falsche Entscheidungen treffen und mit Prognosen daneben liegen. Das gilt auch für Experten. Auch deren Wissen ist begrenzt und auch sie können sich irren, das heißt man kann sich im Grunde auf nichts und niemanden verlassen. In der vormodernen Gesellschaft hat man das durch Religiosität und Aberglaube kompensiert, die verlässliche Gewissheiten schafften.

 

Diese Risiken beeinflussen die kapitalistische Ökonomie negativ und der Industrialismus birgt selbst ökologische Gefahren in sich. Mit globaler Überwachung soll dem Problem begegnet werden. Um diese zu gewährleisten, werden zunehmend demokratische Rechte verweigert. Zwar war schon die vormoderne Gesellschaft gefährdet und risikobehaftet, aber die Risiken waren eher lokal begrenzt und als solche auch nur lokal wahrnehmbar. Für Lebensmittelskandale oder die Folgen eines Atomunfalls gilt das in der Moderne nicht mehr.

Dynamik und Radikalisierung der politischen Kultur

Staatliche Gesellschaftssteuerung, wie sie der Sozialismus früherer Zeiten vorsah, ist in der radikalisierten und globalisierten Moderne kaum möglich. Auch der Neoliberalismus ist in seiner Radikalität schwer umsetzbar, weil er in sich widersprüchlich ist: Zum einen ist er traditionsfeindlich, um den Gesetzen des freien Marktes, sowie dem Individualismus das Feld zu überlassen. Damit er sich selbst legitimiert, braucht er aber andererseits die Tradition, weil sie ihn immer dann an den Konservativismus bindet, wenn es um Begriffe wie Nation, Religion, Familie, usw. geht.

 

Als Lösung schlägt Anthony Giddens eine radikale, dialogische Demokratie vor, in Anlehnung an einen philosophischen Konservativismus:

  1. Etablierung eines Berufszweiges für die Reparatur beschädigter Solidarität.
  2. Eine angemessene Beurteilung des Individualismus, vor allem im Hinblick auf die Produktion aktiven Vertrauens und freiwilliger Zustimmung, was Autonomie voraussetzt.
  3. Die Beantwortung der Frage „wie sollen wir leben?“, wo Entscheidungen an die Stelle von Traditionen getreten sind. So erzwingt z. B. die Berufswahl und –tätigkeit eine individuelle Entscheidung und Berufsarbeit konkurriert mit anderen Lebenswerten.
  4. Konzeption einer generativen Politik, die Individuen und Gruppen im Kontext übergreifender sozialer Belange und Ziele die Möglichkeit einräumen will, Dinge geschehen zu lassen, anstatt sie passiv zu erleiden.
  5. Schaffung eines Sozialinvestitionsstaates, als Bestandteil einer Gesellschaft mit „positiver Wohlfahrt“, d. h. soziale Sicherung als Teil einer Politik der Lebensführung, die auf Prävention und Ursachenbehandlung zielt.
  6. Auseinandersetzung mit der Rolle der Gewalt in einer sich radikalisierenden Moderne, in der verschiedene globale Interessen und globalisierte Wertvorstellungen aufeinandertreffen.

Eine kapitalistische Nachknappheitsökonomie, eine humanisierte Natur und im Rahmen des Dialogs ausgehandelte Machtverhältnisse, die ohne Gewalt auskommen, könnten das Ergebnis dieses Ansatzes sein. Im Kern geht es darum, allgemeine Abhängigkeiten in eine neue Herrschaft individueller Autonomie zu überführen. Es geht um gegenseitige Toleranz im Zusammenleben mit und im Verhältnis zu anderen. Ziel ist eine Weiterentwicklung des modernen Wertehorizontes in Richtung Postmaterialismus und der Rückzug des Militarismus.

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