Flexibilität als kultureller Imperativ

© Katja Tropoja

 

Wem wir in gegenseitiger Abhängigkeit verbunden sind, dem begegnen wir verlässlich mit Loyalität, vielleicht sogar mit Vertrauen. Dafür brauchen wir eine gemeinsame Idee gemeinsamer Werte, die auch längerfristig Bestand hat und nicht bei der nächsten Gelegenheit wieder über Bord geworfen wird, je nach Interessenlage und individueller Wunschliste.

 

Die Ungeduld, Schnelligkeit und Beliebigkeit „flexibler“ Charaktere lässt dafür jedoch wenig Raum.  Darüber hinaus sind wir von Menschen abhängig, die uns gar nicht brauchen. Wiederum müssen sich andere auf uns verlassen können, während für uns keineswegs die Notwendigkeit besteht, auf ihre Wünsche einzugehen, weil wir gut ohne sie auskommen.

 

  • Wer kann uns als Person noch spiegeln und damit ein stabiles Selbstbild vermitteln?
  • Wie sollen sich langfristig Charakter und Identität bilden, wenn soziale Bindungen flüchtig sind?
  • Wo ist in einer flexibilisierten Gesellschaft die narrative Komponente zu finden?
  • Was bedeutet das eigentlich für unsere Biographien?
  • Was ist aus traditionellen Werten, wie die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, Treue, Loyalität, Verlässlichkeit, Beständigkeit und Ausdauer geworden?
  • Lohnt es sich noch, langfristige Ziele zu formulieren und diese zu verfolgen, bis sich das gewünschte Ergebnis zeigt?
  • Wird das überhaupt honoriert, wo sich doch ständig neue Wege erschließen und viele verschiedene Visionen existieren, die sich mühelos untereinander austauschen lassen?
  • Macht es Sinn, Bedürfnisse aufzuschieben und in der Gegenwart Verzicht zu üben, zugunsten eines höheren, aber in weiter Ferne liegenden Ziels?
  • Hat der Anspruch an unsere Flexibilität eine Priorität eingenommen, hinter der jede andere Tugend zurückbleibt?
  • Woran sollen wir uns orientieren?
  • Sind wir überhaupt noch in der Lage, nachfolgenden Generationen ein besseres Wertesystem zu vermitteln, wenn wir nicht in der Lage sind, dieses auch vorzuleben?

Flexibilität um jeden preis

Bereits vor zwanzig Jahren diagnostizierte der amerikanische Soziologe Richard Sennett eine Gesellschaft von ängstlichen, instabilen und verunsicherten Menschen, die zu einem großen Teil im Bewusstsein ihres Kontrollverlustes, der eigenen Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit lebten, in der wenige profitieren und die Masse verliert. Er beschrieb 1998 in seinem Buch The Corrosion of Character den flexiblen Kapitalismus, die Ursachen für beschleunigte Arbeitsprozesse und wachsenden Leistungsdruck, sowie deren Folgen für die Lebenswelt und die Persönlichkeit des Einzelnen. Er tat dies vor dem Hintergrund der New Economy der 1990er Jahre. Diese hatte zu tiefgreifenden Veränderungen auf gesellschaftlicher, organisationaler und individueller Ebene geführt.

 

Als Unternehmen anfingen, sich für „ungeduldiges Kapital“ zu interessieren und spezialisierte Produktionstechnologien zu entwickeln, brach das stahlharte Gehäuse einer bürokratisierten und pyramidenartig hierarchisierten Arbeitswelt. Doch auch der flexible Kapitalismus ist keineswegs unbürokratisch. Kontrollinstanzen müssen die unbedingte Anpassung an Märkte gewährleisten. Ohne sie ist diese moderne Form des Kapitalismus nicht funktionsfähig.

 

Um hochspezialisiert zu produzieren wird der Markt hochgradig segmentiert und der Wertschöpfungsprozess ebenfalls in Einzelteile zerlegt. Diese treten miteinander in Konkurrenz, was zu Erfolgsdruck und Rivalität führt. Die Macht des flexiblen Kapitalismus potenziert sich aufgrund dieses mehrdimensionalen Gegeneinanders einzelner Einheiten. Sie ist gut organisiert, effizient, dabei weitestgehend unsichtbar, formlos und überaus subtil. „Moderne“ Organisationen müssen Macht deshalb nicht mehr offen auszuüben. Sie beobachten die Bereitschaft der Menschen zur Flexibilität. Wer sich ihr nicht unterwirft, ist draußen und wer sich fügt, wird zum „Drifter“, zu einem ziellos Dahintreibenden, einem Opfer der Flexibilisierung.

Vergangenheit, Routinen und Erfahrungen

Eine berechenbare Lebensweise basierte früher auf bürokratischen Strukturen. Das Leben war ein mehr oder weniger linearer Prozess, eine kontinuierliche Lebenserzählung mit „rotem Faden“ und in der Summe eine relativ runde Sache, ein kumulativer Erfolg. Langfristige Erwartungen, die Pflege von Gewohnheiten und Traditionen, sowie der Rückgriff auf Bewährtes schufen einen sinnvollen Erzählrahmen für das Leben.

 

Routinen und Gewohnheiten sind die Basis für ein innovatives Umfeld. Es ist deshalb nicht in jedem Fall produktiver und effizienter, Organisationen und Institutionen umzubauen oder ganz aufzulösen:

 

„Routine ist nicht geistlos. Sie lehrt uns, zu beschleunigen und zu verzögern, zu variieren, zu spielen und Neues zu entwickeln – wie ein Musiker lernt, beim Spielen eines Musikstücks die Zeit zu gestalten. Routinen sind schützenswerte Voraussetzungen für den menschlichen Charakter.“

(Richard Sennett)

Der flexible Kapitalismus setzt dagegen auf Okkassionalismus:

  • Auf der Grundlage kurzfristiger Prognosen und in Reaktion auf Marktgegebenheiten werden Chancen ergriffen, alte Konzepte werden schnell verworfen.
  • Jederzeit kann es neue Zielvorgaben geben, die tief in persönliche Lebenskonzepte eingreifen.
  • Der Kontext von Ereignissen und von Resultaten aus früheren Entscheidungen ist so für alle Beteiligten nicht als großes Ganzes erkennbar.
  • Es fehlen Bewusstsein und Gedächtnis für soziale und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge.
  • Der hohe Grad der Arbeitsteilung verursacht ein bindungsloses Gefüge der Teilsegmente, mangelnde Identifikation mit dem Arbeitsgegenstand und eine große Distanz zur Arbeitswelt.

Das macht es kaum noch möglich, die Umwelt und letztlich sich selbst zu lesen. Konstant bleibt aber die Forderung nach Flexibilität und Risikobereitschaft, jenseits entgegengesetzter, individueller Erfahrungen, die einzelne Akteure in der Vergangenheit gesammelt haben. Wer sich nicht bewegt, ist nicht erfolgreich. Plötzlich ist nicht das Ziel wichtig, sondern der Aufbruch dorthin. Veränderung wird zum kulturellen Imperativ, privates Scheitern als Folge von Bindungslosigkeit inklusive. Der flexible Kapitalismus legt dem Einzelnen in seinem Bindungsmangel nahe, sich dieses Scheitern selbst anzulasten. Das lenkt ab von der Ursache allen Übels: Eine globale Ökonomieelite übt moralischen und normativen Druck auf Wirtschaft und Politik und die gesamte Gesellschaft aus.

Erzählbarkeit und Lesbarkeit

Dem setzt Sennett eine Gemeinschaft der Betroffenen entgegen, die durch rituelles und kollektives Erzählen entsteht und sich selbst erhält. Sie ist Teil des modernen Kapitalismus und stellt sich den individuellen, konfliktreichen Biographien. Die beschriebenen Mangelerscheinungen lassen sich so teilweise reduzieren. Im Erzählen sind sie immerhin zu Mitgliedern einer Problemgemeinschaft geworden, übernehmen in gegenseitiger Akzeptanz Verantwortung und machen die wenigen lesbaren Formen des flexiblen Kapitalismus öffentlich sichtbar. Sie unterscheiden sich somit von Gemeinschaften im Sinne der Kommunitaristen, die das „oberflächliche Teilen gemeinsamer Werte“ propagieren und in Konflikten lediglich eine Bedrohung sehen, kritisiert Sennett.

 

Sennett meint, nur mit Hilfe sicherer und vertrauenswürdiger Institutionen, sowie einer an politischer Teilhabe interessierten und aktiven Öffentlichkeit, sei Besserung, d. h. ein Endes des „Dirft“ in Sicht:

 

"In der Moderne übernehmen die Menschen Verantwortung für ihr Leben, da sie es ganz als ihre Leistung betrachten. Aber wenn diese ethische Kultur der Moderne mit ihrer Semantik der persönlichen Verantwortlichkeit und des persönlichen Lebenserfolges in eine Gesellschaft ohne institutionellen Schutz übertragen wird, zeigt sich dort nicht Stolz auf das eigene Selbst, sondern eine Dialektik des Versagens inmitten von Wachstum."

 

(Richard Sennett: „Der neue Kapitalismus." In: Berliner Journal für Soziologie 8, 1998)

 

© Katja Tropoja

 

 

Mit seinem Buch „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ (The Culture of the New Capitalism) setzte Sennett 2005 seine Ausführungen zum flexiblen Menschen im flexiblen Kapitalismus fort.

 

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