Die Prophezeiungen des Samuel P. Huntington: Wie gefährlich ist kulturelle Identität?

© Katja Tropoja
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Der amerikanische Politikwissenschaftler und Regierungsberater in nationalen Sicherheitsfragen Samuel P. Huntington beschäftigte sich bereits in den 1960er Jahren intensiv mit nationalen Modernisierungs- und Demokratisierungsprozessen. 1993 erschien sein Artikel „The Clash of Civilizations?“ in der Fachzeitschrift Foreign Affairs. Dort warnte er davor, dass auf den Krieg der politischen Ideologien ein Krieg der Kulturen folgen würde.

Die Utopie einer unipolaren Gesellschaftsordnung

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war die Stimmung in den USA eher optimistisch, was die Zukunft betraf: Francis Fukuyama verkündete 1989 in seinem gleichnamigen Buch „das Ende der Geschichte“. Dabei orientierte er sich an der Geschichtsphilosophie Hegels und behauptete ernsthaft, nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem Zusammenbruch der totalitären Systeme habe die Menschheit nun das letzte Stadium der politischen Geschichte erreicht, nämlich die universal-liberale Demokratie als unerschütterlich zementierte Regierungsform.

Dieser universalen Zivilisationsidee einer unipolaren Weltordnung, mit einem westlichen Menschenrechtsverständnis als Grundlage, folgten auch George Bush und Bill Clinton.

Ganz neu war diese Vision einer friedlichen Weltordnung allerdings nicht. Bereits Franklin D. Roosevelt hatte sie in schillernden Farben und lebhaften Bildern visualisiert. Harry S. Truman setzte dem Traum schließlich durch seine Doktrin vom 12. März 1947 und die anschließende „Containment“-Politik ein Ende. Dazu inspiriert hatte ihn der Historiker und Diplomat George F. Kennan, der ebenfalls einen Artikel in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ publizierte, dessen Kernaussage lautete: „...the main element of any United States policy towards the Soviet Union must be a long-term, patient but firm and vigilant containment of Russian expansive tendencies (…).“ Auch wenn er, wie er später betonte, eher an politische und wirtschaftliche Methoden zur Eindämmung sowjetischen Einflusses gedacht hatte, wurde das Konzept in erster Linie militärisch interpretiert.

Es folgte der Kalte Krieg.

Kulturelle Identifizierung statt politische Ideologisierung

Innerhalb der bipolaren internationalen Weltordnung der folgenden vier Jahrzente ging es in erster Linie um die Frage nach der politisch ideologisierten Überzeugung. Man musste wissen, auf welcher Seite man stand. Die Seiten ließen sich aber beliebig wechseln, je nach aktueller Interessenlage. Davon hatten die blockfreien Staaten regelmäßig Gebrauch gemacht und so die USA und die Sowietunion gegeneinander ausgespielt.

 

Mit der eigenen kulturellen Identität funktioniert das nicht so einfach. Seit Beginn der 1990er Jahre rückte sie in den Vordergrund und Huntington erkannte darin den künftig wichtigsten Konfliktherd in den internationalen Beziehungen. Sie sei von existentieller und herausragender Bedeutung, denn die Frage „Was bin ich?“ ist sehr viel substantieller, unmittelbarer und tiefgreifender als die Frage nach einer politischen Ausrichtung. Huntington sah deshalb weitaus fundamentalere und gewalttätigere Konflikte voraus, als diejenigen, die man bis dahin kannte.

 

Keine Verwestlichung durch Modernisierung

Die politischen und wirtschaftlichen Eliten hatten in den 1990er Jahren überwiegend die gleiche Erwartungshaltung:

 

"Der wirtschaftliche Erfolg und technologische Fortschritt in den Schwellenländern wird mit der Übernahme westlicher Werte verbunden sein und es wird einen Angleich in Richtung

westliche Weltzivilisation geben."

 

Huntington hielt das für illusorisch. Stattdessen erwartete er einen „cultural backlash“:

„… non-Western societies have seen a return to indigenous cultures. It often takes a religious form… .” (in: Foreign Affairs, Ausgabe 75, 1996: “The West: Unique. Not Universal”).

Er sollte Recht behalten, denn innerhalb der „Schurkenstaaten“ erfreuten sich die Machthaber wieder steigender Beliebtheit in der eigenen Bevölkerung und wo demokratische Wahlen ermöglicht wurden, konnten sich autoritäre Machtstrukturen etablieren.

 

Materielle Modernisierung und “Verwestlichung” bedingen einander nicht. Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit hatten sich bereits im England der Vormoderne etabliert. Staat und Kirche waren schon getrennt, als der Westen von der Moderne noch weit entfernt war. Demokratie gab es schon im antiken Griechenland. Auch freie Märkte sind keine Erfindung der Moderne. Die Modernisierung muslimischer Gesellschaften hat diese nicht verwestlicht. Im Gegenteil: Moderne junge Menschen vertreten einen fundamentalen Islamismus. Seit mehr als vierzig Jahren sind dort über 20 % der Bevölkerung zwischen 15 und 24 Jahre jung. Das wäre an sich kein Problem, wäre Jugendlichkeit nicht traditionell ein Indiz für gesellschaftliche Destabilisierung und revolutionäres Verhalten. Die europäische Geschichte ist dafür beispielhaft:

Die Studentenbewegung am Ende der 1960er Jahre und der Terror der Roten Armee Fraktion, rechter Terrorismus durch den Nationalsozialistischen Untergrund, französische Revolution, usw. Das Rekrutieren für solche Zwecke gelingt immer dort, wo gesellschaftliche Verhältnisse prekär sind und wo einer Vielzahl junger Menschen eine Aussicht auf Identitätsfindung und Machtausübung gegeben werden kann. Im Nationalsozialismus ist der studentische Geheimbund Weiße Rose wahrscheinlich auch wegen des Fehlens dieser Voraussetzungen gescheitert. 

Was Huntington voraussagte

Huntington prophezeite 1993 für die folgenden dreißig Jahre eine Welle des internationalen Terrorismus, starke Migrationswellen und blutige Grenzkriege zwischen Islam und „Ungläubigkeit“, das heißt dem unreligiösen, moralisch verwerflichen und dekadenten Lebensstil in den westlichen Gesellschaften. Diesem neuen Islam maß Huntington die gleiche Bedeutung bei, wie einst Max Weber der protestantischen Ethik in den USA und in Europa.

 

Auf äußerst turbulente Szenarien in den internationalen Beziehungen müsse man sich vorbereiten, so Huntington. Die USA würden sich weiterhin an Kriegen beteiligen und sich dort einmischen, wo es langfristig nur Verlierer geben könne. Militärische Überlegenheit und pseudo-moralisches Auftreten werden die USA zum „hollow hegemon“ machen, schrieb Huntington in einem weiteren Artikel in der Foreign Affairs, Ausgabe 78, 1999: „The Lonely Superpower“.

 

Die Nato-Mitgliedschaften Griechenlands und der Türkei solle man überdenken, da diese sich voraussichtlich mehr und mehr auf ihre „natürlichen“ kulturellen Verbündeten – d. h. auf ihre orthodoxen und islamischen Kernländer - zubewegen würden.

 

Misslinge die Assimilation der Einwanderer an die Kultur des Westens vollständig, dann gerieten die USA, Frankreich und Deutschland in Gefahr, zu kulturell zerrissenen, damit innenpolitisch schwachen und international handlungsunfähigen Staaten zu werden.

 

Die USA und Europa müssten den „konfliktstiftenden Sirenengesängen des Multikulturalismus“ eine Absage erteilen und den identitären Bezug zu ihrem „europäisch-jüdisch-christlichen Erbe" wieder intensivieren.

Huntingtons politisches Maßnahmenprogramm

  • Die USA müssen sich in ihrer Außenpolitik von ihrem Menschenrechtsidealismus lösen, da dieser nicht in die Praxis umsetzbar ist.
  • Die USA sollen sich ihren eigenen machtpolitischen Interessen zuwenden.
  • Die USA müssen die transatlantischen Beziehungen vertiefen und mit Europa noch enger zusammenrücken als bisher.
  • Die NATO-Osterweiterung wird die transatlantischen Verteidigungsstrukturen fördern und Identität und Machtressourcen des westlichen Kulturkreises festigen.
  • Das „westliche Erbe“ muss bewahrt werden.
  • Die USA und Europa müssen sich als Teil einer umfassenden westlichen Kultur erneuern.

Alle US-Präsidenten bis Anfang der 1990er Jahre waren der Meinung, dass die Förderung der nationalen Einheit und nicht die multikulturelle Verschiedenheit Erfolg und Wohlstand garantieren können. Clinton und Obama relativierten diese Aussage und wichen etwas vom Kurs ab.

Trump dagegen fürchtet offenbar, was schon Huntington als größte Bedrohung für die kulturelle Identität des Westens ansah: Die Multikulturalisten. Ob er sich an Huntingtons Maßnahmenkatalog halten wird, bleibt abzuwarten.

 

© Katja Tropoja

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